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Thursday, April 05, 2012

EGMR zu französischem Mobilfunk-Kartell, geleakten Verfahrensakten und Unschuldsvermutung

Wenn ich in diesem Blog über Wettbewerbssachen im Telekom-Bereich schreibe, dann meist zu Urteilen des EuG oder EuGH (zuletzt etwa zu den Urteilen des EuG in den Telefónica-Fällen hier). Und wenn Entscheidungen des EGMR behandelt werden, dann in der Regel Mediensachen nach Art 10 EMRK, oft in Abwägung mit Art 8 EMRK (zuletzt zum Fall Kaperzyński hier).

Nun aber gibt es ausnahmsweise Gelegenheit, auch einmal über ein Telekomkartell vor dem Hintergrund einer dazu ergangenen EGMR-Entscheidung zu schreiben: Mit Entscheidung vom 13.03.2012, Société Bouygues Telecom gegen Frankreich (Appl. no. 2324/08), hat der EGMR nämlich eine auf Art 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) gestützte Beschwerde der Société Bouygues Telecom als offensichtlich unbegründet und damit unzulässig abgewiesen.

Bouygues, einer von damals drei französischen Mobilfunk-Betreibern, war mit Entscheidung der französischen Wettbewerbskommission vom 30.11.2005 zu einer Geldbuße von 58 Mio € verurteilt worden (Orange musste 256 Mio € bezahlen, SFR 220 Mio €; zur Entscheidung der Wettbewerbskommission siehe auch deren Presseaussendung). Im Wesentlichen wurden den Unternehmen strategischer Informationsaustausch (Monat für Monat waren detailierte Informationen zu Vertragssschlüssen und Kündigungen ausgetauscht worden) und Absprachen über einer Stabilisierung der Marktanteile vorgeworfen; unter anderem waren Aufzeichnungen über eine "Befriedung des Marktes" ("pacification du marché") oder ein "Jalta der Marktanteile" ("Yalta des parts de marché") gefunden worden.

Leaks und Unschuldsvermutung
Noch vor der Entscheidung der Wettbewerbskommission war der vertrauliche Untersuchungsbericht der DGCCRF (Direction Générale de la Concurrence, de la Consommation et de la Répression des Fraudes) geleakt worden; mehrere Zeitungen druckten Auszüge daraus ab (eine Zeitung erwartete zB "gesalzene Strafen"), auch Radio, TV und Online-Medien berichteten. Am Abend vor der Entscheidung der Wettbewerbskommission berichteten einige Zeitungen, dass die Unternehmen verurteilt würden und nannten auch schon die Geldbußen, die verhängt werden würden. Die Wettbewerbskommission veröffentlichte daraufhin eine Presseerklärung, dass es sich um reine Spekulationen der Journalisten handle, dass noch keine Entscheidung der Wettbewerbskommission gebe und dass die Betroffenen bis zur Verkündung der Entscheidung Anspruch auf die Respektierung der Unschuldsvermutung hätten. Wer den Bericht geleakt hatte, wurde trotz eingeleiteter Untersuchungen nie herausgefunden.

Die betroffenen Unternehmen erhoben Rechtsmittel, die nur teilweise erfolgreich waren; letztlich wurde die Entscheidung der Wettbewerbskommission im hier wesentlichen Umfang betreffend Bouygues auch vom Berufungsgericht und Kassationsgericht bestätigt (Links zu den Entscheidungen finden sich hier, unten).

Verletzung des Art 6 EMRK?
In der Beschwerde an den EGMR machte Bouygues drei Verstöße gegen Art 6 EMRK geltend:
  • Waffengleichheit: Bouygues sei im gerichtlichen Verfahren mehreren Anklägern gegenübergestanden, nämlich den Vertretern zweier Ministerien und auch der Wettbewerbskommission selbst, die ihre Entscheidung verteidigt habe.
  • Öffentlichkeit des Verfahrens: das Verfahren vor der Wettbewerbskommission sei nicht öffentlich gewesen, die Überprüfung durch das Berufungsgericht und den Kassationsgerichtshof sei nicht ausreichend, da diese keine Untersuchungsgewalt hätten.
  • Unschuldsvermutung: rund zwanzig Zeitungen hätten Bouygues schon vor der Entscheidung als schuldig hingestellt.
Zur Unschuldsvermutung betont der EGMR, dass die Berichterstattung differenziert war. Auch wenn die satirische Zeitschrift Le Canard Enchaîné die Schuld der Beschwerdeführerin als sicher hinstellte, war dies in anderen Zeitungen nicht der Fall. Global betrachtet ("globalement considérée") habe die Presse die Schuld der Beschwerdeführerin nicht als sicher hingestellt und der aufmerksame Leser konnte nicht im Irrtum über die Tatsache sein, dass noch keine Entscheidung vorlag. Der EGMR berücksichtigt auch den Umtand, dass von staatlicher Seite Schritte zur Wahrung der Unschludsvermutung gesetzt worden waren (Verständigung des Staatsanwaltes zur Untersuchung des "Leaks" und Presseerklärung mit Betonung der Unschuldsvermutung). Die Beschwerde wegen Verletzung der Unschuldsvermutung wurde daher als offensichtlich unbegründet angesehen.

Die Waffengleichheit hät der EGMR ebenfalls nicht für verletzt. Ausdrücklich hält er allerdings fest, dass er nicht darüber zu entscheiden habe, ob die unabhängige Verwaltungsbehörde als Vertreterin der Verfolgungsbehörde ("administration poursuivante") anzusehen sei. Die Beschwerdeführerin habe nicht dargelegt, dass die Vertreter der Ministerien und der Wettbewerbsbehörde in irgendeiner Weise im Verfahren privilegiert gewesen wären. Die Beschwerdeführerin habe auch zu jedem Vorbringen Stellung nehmen können. Es gebe daher keinen Anhaltspunkt, dass das Prinzip der Waffengleichkeit verletzt worden sei, auch nicht nach dem äußeren Anschein. Das gelte auch im Hinblick auf die Wettbewerbsbehörde; der Gerichtshof sei sich des Umstands bewusst, dass der Ansicht der Wettbewerbsbehörde besondere Autorität zukomme; es obliege aber dem Richter, die Bedeutung der Anmerkungen dieser Behörde unter Bedachtnahme auf deren technische Kompetenz und deren Willen, dass ihre Entscheidung nicht abgeändert werde, zu würdigen.

Zur Öffentlichkeit stellt der EGMR fest, dass das Fehlen einer öffentlichen Verhandlung vor der Wettbewerbskommission durch die doppelte gerichtliche Kontrolle durch das Berufungsgericht und den Kassationsgerichtshof kompensiert werde. Für die Wettbewerbskommission als unabhängige Verwaltungsbehörde sei anders als im normalen Strafverfahren keine mündliche Verhandlung in erster Instanz (und in der Berufungsinstanz) erforderlich. Das Berufungsgericht habe volle Kognition gehabt ("pleine juridiction") und in der Sache entscheiden können, es habe auch die Rechtsmittel detailliert geprüft. Die Beschwerdeführerin könne nicht entkräften, dass sowohl das Berufungsgericht als auch der Kassationsgerichtshof die streitige Entscheidung einer genauen und effektiven Kontrolle unterzogen hätten ("un examen minutieux et efficace").

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