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Tuesday, December 10, 2024

Ein Bundesminister auf dem Sunset Legislation Boulevard

Gestern hat sich Noch-Bundesminister für Arbeit und Wirtschaft (und demnächst Gouverneur der Österreichischen Nationalbank) Martin Kocher bei einer Veranstaltung der Wirtschaftskammer für mehr "Sunset Legislation" ausgesprochen. Befristete Gesetze, die auslaufen, wenn sie nicht verlängert werden, halte er für eine gute Idee, wird der Bundesminister in den Medien zitiert (ich habe das Ministerium um einen Text der Rede gebeten und werde seine Aussagen, sollte ich sie bekommen, gegebenenfalls ergänzen).

Aber: wenn die Idee so gut ist, warum hat er sie dann in seiner politischen Praxis nie umgesetzt?

Martin Kocher war seit 11. Jänner 2021 Bundesminister (zunächst für Arbeit, Familie und Jugend, dann für Arbeit, und zuletzt für Arbeit und Wirtschaft). Von seinem Ministerium wurden während seiner Amtszeit 22 Gesetzesentwürfe in Begutachtung geschickt (laut Rechtsinformationssystem des Bundes). 

19 dieser Gesetzesentwürfe bestehen ausschließlich aus Änderungen bestehender Gesetze. In keinem dieser Entwürfe wurde vorgeschlagen, dass die Änderungen nur befristet gelten sollten, oder auch, dass die jeweils zu ändernden Gesetze (auch) dahingehend geändert werden sollten, dass sie nur mehr befristet gelten.

In drei Begutachtungsentwürfen sind auch neu zu erlassende Gesetze enthalten: 

  • Mot-G (Bundesgesetz, mit dem die innerstaatlichen Anforderungen der Verordnung (EU) 2016/1628 in Bezug auf die Emissionsgrenzwerte für gasförmige Schadstoffe und luftverunreinigende Partikel und die Typgenehmigung für Verbrennungsmotoren für nicht für den Straßenverkehr bestimmte mobile Maschinen und Geräte festgelegt werden)
  • HinweisgeberInnenschutzgesetz 
  • HBB-Gesetz (Bundesgesetz über die höhere berufliche Bildung)

In keinem dieser Entwürfe für neu zu erlassende Gesetze sind "sunset clauses" enthalten, alle drei enthalten konventionelle Inkrafttretensbestimmungen und gelten, bis der Gesetzgeber anderes beschließt. 

Natürlich ist das sinnvoll: zwei der drei Entwürfe für neu zu erlassende Gesetze dienen der Umsetzung  bzw. Durchführung von Unionsrecht, das ebenfalls unbefristet in Geltung steht; das dritte Gesetz soll  (laut dessen § 1) einen Rahmen für die Festlegung, die Einrichtung und den Erwerb von Qualifikationen der höheren beruflichen Bildung regeln - das klingt auch nicht nach etwas, das man nach drei oder fünf Jahren nicht mehr benötigen würde. 

Und an den vergleichsweise vielen Entwürfen für Gesetzesänderungen sieht man zunächst einmal deutlich, dass Gesetzesänderungen jedenfalls zahlreicher sind als gänzliche Neuerfindungen von Gesetzen. Weiters zeigt sich daran, dass bei Erkennen von Änderungsbedarf (und die meisten Änderungen schließen in gewisser Weise eine Aufhebung bisherigen Rechts ein), ohnehin der Gesetzgebungsprozess angestoßen wird. Würden mehr Gesetze als bisher tatsächlich bloß befristet erlassen, wäre ein Änderungsbedarf gegebenenfalls auch dann gegeben, wenn sich nichts geändert hat - weil dann, bei Fortbestand des Anlasses für das Gesetz, eben die sunset clause geändert (verlängert) werden müsste. 

Bei realistischer Betrachtung würden daher "sunset clauses" eher zu mehr Gesetzgebungsakten führen. Denn wenn man davon ausgeht, dass Gesetze nicht aus Jux und Tollerei beschlossen werden, sondern weil es einen Regelungsbedarf gibt, dann wäre es naiv anzunehmen, dass der Regelungsbedarf nach einer im Vorhinein bestimmten Zeit wegfallen wird. Realistischer ist die Annahme, dass der Regelungsbedarf entweder bestehen bleibt (dann müsste die "sunset clause" durch einen eigenen Beschluss des Gesetzgebers verlängert werden), oder der Regelungsbedarf ändert sich (dann müsste das Gesetz geändert werden, egal ob mit oder ohne "sunset clause"), oder der Regelungsbedarf könnte schon vor Ablauf der Befristung wegfallen (dann müsste das Gesetz ausdrücklich aufgehoben werden, trotz bestehender "sunset clause"). 

Und wenn man sich die Liste der Gesetze ansieht, deren Änderung mit den Entwürfen aus Kochers Ministerium vorgeschlagen wurde (u.a. Gewerbeordnung, Arbeitslosenversicherungsgesetz, Arbeitsverfassungsgesetz, Berufsausbildungsgesetz, Arbeitszeitgesetz usw.), dann sollte wohl keines dieser Gesetze sinnvollerweise zur Gänze automatisch außer Kraft treten - zumindest nicht, ohne die darin enthaltenen Regelungen der Sache nach in anderen Rechtsvorschriften "aufzufangen". Die gerne beklagte Überregulierung entsteht nicht durch ein Gesetz an sich, sondern gegebenenfalls durch Detailregelungen in diesem Gesetz. Auch und gerade die Wirtschaftskammer, die gerne für "Sunset Legislation" eintritt, wäre wohl wenig erfreut, würde der Wirtschaftsminister das ersatzlose Außerkrafttreten der Gewerbeordnung (nach einer Sunset-Frist von vielleicht drei Jahren) vorschlagen. Die Knochenarbeit, Bestimmungen im Detail zu durchforsten und gegebenenfalls anzupassen oder wegen "Überregulierung" zu beseitigen, ist eine Aufgabe, die nicht damit erledigt werden kann, dass man plakativ "Sunset Legislation" fordert. 

In Österreich kann ich mich übrigens nur an ein befristet erlassenes Gesetz erinnern, das tatsächlich ohne jegliche Änderung (und ohne Debatte um eine Verlängerung der Befristung ) nach Ablauf der im Vorhinein festgelegten Befristung sang- und klanglos außer Kraft getreten ist: das Deregulierungsgrundsätzegesetz. Weil dieses Gesetz völlig sinnlos war und keinerlei normative Anordnung enthielt, war es zwar einerseits erfreulich, dass es sich mit seiner "sunset clause" selbst zerstört hat. Andererseits wäre aber auch eine unbefristete Weitergeltung gar nicht einmal so schlimm gewesen, denn wenn das Gesetz schon zu sonst nichts dienen konnte, als abschreckendes Beispiel für reine Symbolgesetzgebung war es perfekt (siehe dazu im Blog schon hier und hier). 

"Sunset Legislation" ist ein leeres Schlagwort, das im Boulevard vielleicht gut klingt, aber in der politischen Praxis zurecht praktisch keine Rolle spielt. Merkwürdig ist nur, wenn ein Bundesminister, der in seiner gesamten Amtszeit keinen einzigen Gesetzesvorschlag mit "sunset clause" auf den Weg  gebracht hat, "Sunset Legislation" nun für eine gute Idee hält: entweder die Idee ist ihm erst jetzt gekommen, oder er hat bisher keine Ambitionen gehabt, seine "gute Idee" auch umzusetzen. Vielleicht einfach deshalb, weil die Idee doch nicht so gut ist, wie sie auf den ersten Blick wirkt.

Friday, October 04, 2024

EuGH-Urteil zur "Handysicherstellung"

Das heutige Urteil des EuGH in der Rechtssache C-548/21, BH Landeck, befasst sich mit den unionsrechtlichen Rahmenbedingungen für die Sicherstellung (und Auswertung) von Mobiltelefonen zu Zwecken der Strafverfolgung, auf der Basis der Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutzrichtlinie für den Bereich Justiz und Inneres) sowie der Grundrechtecharta. Das Vorabentscheidungsersuchen stammte vom Landesverwaltungsgericht Tirol und erging in einem Verfahren über eine Maßnahmenbeschwerde, die von einem deutschen Staatsangehörigen gegen die Sicherstellung seines Mobiltelefons durch die Kriminalpolizei (im Zuge von Ermittlungen aufgrund eines an ihn adressierten Briefes mit Cannabiskraut) erhoben worden war. 

Überraschenderweise zulässig

Das EuGH-Urteil ist zunächst einmal ein schönes Beispiel dafür, wie der Gerichtshof, wenn er denn will, kreativ werden kann, um ein auf den ersten Blick - jedenfalls aus österreichischer Perspektive - unzulässig erscheinendes Vorabentscheidungsersuchen doch inhaltlich beantworten zu können: 

  1. dem vorlegenden Gericht wird ein wenig nachgeholfen (durch freundliche Nachfrage, ob nicht doch eine andere als die explizit genannte Richtlinie einschlägig wäre, s. Rn.31), 
  2. österreichische Hinweise auf einen sich aus den Akten ergebenden anderen Sachverhalt werden dezent zur Seite geschoben (Rn. 36 und 41), 
  3. die eigentliche Frage der Zulässigkeit wird recht nachsichtig abgehandelt ("...Gesichtspunkte lassen somit den Schluss zu, dass das Vorabentscheidungsersuchen dem Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung genügt." - vgl. demgegenüber Rn. 34 bis 55 der Schlussanträge), 
  4. der Gerichtshof hält sich auch nobel zurück, wenn ihm Generalanwalt und österreichische Regierung darlegen, dass zwei Fragen nicht einschlägig seien (Rn. 53 und 54), und
  5. die gestellten Fragen werden großzügig umformuliert (Rn. 60ff und zB Rn. 81: "Somit ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht ... im Wesentlichen wissen möchte ...").

Man merkt also deutlich: der Gerichtshof interessiert sich für die mit dem Vorabentscheidungsersuchen zwar nicht präzise, aber doch der Sache nach angesprochene grundlegende Problematik, und er will sich zu dem Thema äußern. Die Bedeutung der Angelegenheit wird auch dadurch unterstrichen, dass das Urteil in einer Großen Kammer ergangen ist. 

Datenschutz, auch wenn kein Datenzugriff möglich war?

Im Ausgangsfall ist unstrittig, dass ein Zugriff auf die auf dem sichergestellten Mobiltelefon vorhandenen Daten zwar versucht wurde, aber letztlich gescheitert ist. Der EuGH verweist dazu auf den Zweckbindungsgrundsatz, dessen Wirksamkeit zwingend voraussetzt, dass der Zweck der Datenerhebung schon dann ermittelt wird, wenn die Kriminalpolizei versucht, für Zwecke strafrechtlicher Ermittlungen auf die Daten zuzugreifen. Ein solcher Versuch fällt daher in den Anwendungsbereich der RL 2016/680.

Vorgaben für den Datenzugriff 

Der EuGH verweist zunächst auf sein Urteil vom 30.1.2024, C-118/22. Demnach verlangt Art. 4 Abs. 1 lit. c der RL 2016/680 von den Mitgliedstaaten die Einhaltung des Grundsatzes der "Datenminimierung", in dem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck gebracht wird.  Dann hebt er drei Aspekte hervor: 

  1. bei einer Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen polizeilicher Ermittlungen zur Ahndung einer Straftat – wie einem Versuch, auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen – ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GRC tatsächlich entspricht.
  2. die Voraussetzung der Erforderlichkeit ist (nur dann) erfüllt, wenn das mit der betreffenden Datenverarbeitung verfolgte Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam durch andere Mittel erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der Betroffenen eingreifen 
  3. es ist eine Gewichtung aller relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls vorzunehmen; dazu gehören u.a. die Schwere der Einschränkung der Ausübung der in Rede stehenden Grundrechte, die Bedeutung des mit dieser Einschränkung verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziels, die Verbindung zwischen dem Eigentümer des Mobiltelefons und der in Rede stehenden Straftat oder die Relevanz der fraglichen Daten für die Feststellung des Sachverhalts.

Der EuGH betont - wie dies auch der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis zur Datenträgersicherstellung vom 14.12.2023 (insb. Rn. 66 bis 68) getan hat -, dass der Zugang zu den auf dem Mobiltelefon gespeicherten Daten sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben zulassen kann und dass auch besonders sensible Daten betroffen sein könnten. Der Eingriff in die in Art. 7 und 8 GRC verbürgten Rechte ist daher als schwerwiegend oder sogar besonders schwerwiegend einzustufen. 

Die Schwere der Straftat, die Gegenstand der Ermittlungen ist, stellt zwar einen zentralen Parameter bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit dar, allerdings dürfte der Zugang auch nicht generell nur für die Bekämpfung schwerer Kriminalität ermöglicht werden. In diesem Zusammenhang weist der EuGH sogar ausdrücklich darauf hin, dass eine derartige Zugangsbeschränkung eine erhöhte Gefahr der Straflosigkeit für minderschwere Taten ergeben würde und dies dem mit der RL verfolgten Ziel der Vollendung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Union abträglich wäre.

Der EuGH gibt hier dem nationalen Gesetzgeber einige Aufgaben mit: zunächst muss der Gesetzgeber die zu berücksichtigenden Gesichtspunkte, insbesondere die Art oder die Kategorien der betreffenden Straftaten, hinreichend präzise definieren. Er muss auch vorsehen, dass zwischen verschiedenen Kategorien betroffener Personen (Verdächtige, [potenzielle] Opfer einer Straftat, andere) klar unterschieden wird. Vor allem aber muss der Zugang der nationalen Behörden zu personenbezogenen Daten auf dem sichergestellten Mobiltelefon - außer in hinreichend begründeten Eilfällen - von einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht (oder eine unabhängige Verwaltungsstelle) abhängig gemacht werden. 

Grundsatz muss sein: Der Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten durch die zuständigen Polizeibehörden muss verweigert oder eingeschränkt werden, wenn unter Berücksichtigung der Schwere der Straftat und der Erfordernisse der Untersuchung ein Zugang zum Inhalt der Kommunikationen oder zu sensiblen Daten nicht gerechtfertigt erscheint.

Konsequenzen für Österreich

Das vorlegende Verwaltungsgericht wird natürlich den Ausgangsfall zu entscheiden haben. Dass die Maßnahme, so wie sie im Vorabentscheidungsersuchen dargestellt wurde, rechtswidrig war, haben die österreichischen Behörden im Zuge des EuGH-Verfahrens bereits anerkannt (siehe insb. in den Schlussanträgen Rn. 55; insofern dürfte das Urteil im Vorabentscheidungsverfahren tatsächlich nicht präjudiziell für die vom vorlegenden Gericht letztlich zu beurteilende Frage gewesen sein). Allzu große Überraschungen sind also für die Entscheidung des LVwG Tirol nicht zu erwarten.

Das Urteil kommt aber auch gerade noch rechtzeitig für die kurz vor der Beschlussfassung stehende StPO-Novelle, mit der dem bereits genannten VfGH-Erkenntnis Rechnung getragen werden soll. Die Begutachtung dazu ist abgeschlossen, angeblich gibt es inzwischen auch eine Neufassung des Entwurfs, die einigen in der Begutachtung vorgebrachten Einwänden Rechnung tragen soll. Jetzt wird man sich wohl noch kurzfristig auch damit beschäftigen müssen, ob der (geänderte) Entwurf nicht nur den Anforderungen des Verfassungsgerichtshofs, sondern auch jenen des EuGH entspricht.