Das aktuelle VfGH-Erkenntnis zu den ORF-Gremien wurde gleich nach seiner Veröffentlichung vor zwei Tagen ausführlich durchs mediale Dorf getrieben (auch ich wurde umfassend befragt, kaum dass ich Zeit gehabt hatte, es quer zu lesen). Für die Öffentlichkeit ist das Erkenntnis erstmal abgehakt, auch wenn die damit aufgegebene gesetzgeberische Arbeit (ebenso wie der ihr vorangehende politische Aushandlungsprozess) natürlich erst am Anfang steht. In der Berichterstattung stand vor allem im Fokus, dass der VfGH den Bestellungsmechanismus für die Stiftungs- und Publikumsratsmitglieder in wesentlichen Teilen als verfassungswidrig beurteilt hat. Weniger Beachtung fand das Grundsätzliche: die vom VfGH aus dem BVG Rundfunk und Art. 10 EMRK abgeleitete institutionelle Garantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. [Update 12.06.2024: ein Vortrag von mir zu diesem Thema ist nun auch in schriftlicher Form im Österreichischen Juristischen Archiv erschienen und auch hier abrufbar].
Nachdem ich gestern das ganze Erkenntnis in einem (zu) langen Blogbeitrag beschrieben und eine erste vorläufige Einordnung versucht habe, möchte ich heute noch gesondert ein paar Worte nur zu diesem neuen - oder zumindest neu beschriebenen - verfassungsrechtlichen Eckpunkt der Rundfunkordnung schreiben. Dazu muss ich zunächst noch auf das VfGH-Erkenntnis zum Programmentgelt eingehen, das den Boden für das aktuelle Erkenntnis zu den ORF-Gremien aufbereitet hat.
Eckpunkt 1: Funktions- und Finanzierungsverantwortung (Programmentgelt-Erkenntnis)
Im Erkenntnis zum ORF-Programmentgelt vor gut einem Jahr (VfGH 30.6.2022, G 226/2021) hat der VfGH zunächst [Rn. 23] aus Art. I Abs. 2 und 3 BVG Rundfunk eine den Gesetzgeber treffende Funktions- und Finanzierungsverantwortung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abgeleitet. In Rn. 37 dieses Erkenntnisses spannte er sodann den Bogen auch zu Art. 10 EMRK:
BVG Rundfunk und Art. 10 EMRK konstituieren – über Art. 10 Abs. 1 Satz 3 EMRK verbunden (VfGH 6.10.2021, E 2477/2021) – eine Funktionsverantwortung des Gesetzgebers in demokratischer und kultureller Hinsicht für die Ausgestaltung der Rundfunkordnung. Diese beruht auf der in Art. 10 EMRK gewährleisteten individuellen Rundfunkfreiheit ebenso wie auf den institutionellen Vorgaben des BVG Rundfunk (davon geht der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung aus, vgl. etwa VfSlg. 12.822/1991 mit Hinweisen zur Vorjudikatur) und soll umfassend die Freiheit des öffentlichen Diskurses im Wege des Rundfunks gewährleisten. Erfasst von dieser Gewährleistungspflicht ist [...] Rundfunk iSd Art. I Abs. 1 BVG Rundfunk. Für den in dieser Verfassungsbestimmung umschriebenen Rundfunk gelten die institutionellen Garantien des Art. I Abs. 2 und Abs. 3 BVG Rundfunk in Verbindung mit, derartigen Rundfunk ebenso von seinem Schutzbereich miteinschließend, Art. 10 EMRK. [Hervorhebung hinzugefügt]
Schon in diesem Erkenntnis hat der VfGH also institutionelle Garantien für den Rundfunk angesprochen, ohne das allerdings näher zu spezifizieren (schließlich ging es in diesem Zusammenhang vor allem um die Frage der Abgrenzung des Rundfunkbegriffs in Art. I BVG Rundfunk). Er hielt dann auch noch fest, dass "dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk
seine nach Maßgabe des BVG Rundfunk und des Art. 10 EMRK funktionsadäquate
Stellung zukommen" muss, bevor er sich näher mit dem Inhalt der aus dem BVG Rundfunk abgeleiteten "Finanzierungsgarantie" befasste.
Der VfGH hat damit bereits einen großen Bogen gespannt, um die Frage der Finanzierungsverantwortung zu klären. Schon dieses Erkenntnis legte nahe, dass es nach Auffassung des VfGH nicht nur eine Pflicht des Gesetzgebers gibt, die (funktionsadäquate) Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu gewährleisten, sondern dass es auch jedenfalls einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk geben muss, es also nicht ins Belieben des einfachen Gesetzgebers gestellt ist, die duale Rundfunkordnung (Nebeneinander von öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk) dahin abzuändern, nur mehr privaten Rundfunk zu ermöglichen.
Eckpunkt 2: Institutionelle Bestandsgarantie für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter
Mit dem nun gefällten Erkenntnis zu den ORF-Gremien bekräftigt der VfGH die im Programmentgelt-Erkenntnis getroffenen Aussagen: den (Bundes-)Gesetzgeber trifft eine Funktionsverantwortung für die Ausgestaltung der Rundfunkordnung, die sowohl auf Art. 10 EMRK als auch auf dem BVG Rundfunk beruht [Rn. 61]. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk muss dabei in "der so verfassungsrechtlich eingehegten Rundfunkordnung [...] seine nach Maßgabe des BVG Rundfunk und des Art. 10 EMRK funktionsadäquate Stellung zukommen." [Rn. 62] Daran anschließend konkretisiert der VfGH die Bestandsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk:
"Diese Funktions- und Finanzierungsverantwortung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk umfasst die Verpflichtung, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so auszugestalten, dass eine den Grundsätzen des Art. I Abs. 2 zweiter Satz BVG Rundfunk entsprechende öffentlich-rechtliche Rundfunkveranstaltung gewährleistet ist, ebenso wie – damit nach dem Konzept des BVG Rundfunk untrennbar zusammenhängend – die institutionelle Verpflichtung, diese Programmveranstaltung durch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter zu organisieren." [Hervorhebung hinzugefügt]
Der VfGH nennt damit zwei Verpflichtungen des Gesetzgebers:
- Einerseits muss der Gesetzgeber Rahmenbedingungen schaffen, die sicherstellen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunkveranstalter in seiner Tätigkeit die im BVG Rundfunk festgelegten Grundsätze (Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, Berücksichtigung der Meinungsvielfalt, Ausgewogenheit der Programme, Unabhängigkeit) einhält.
- Andererseits muss der Gesetzgeber zwingend einen öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter einrichten, der Rundfunk im Sinne der gerade genannten Grundsätze des BVG Rundfunk veranstaltet.
So deutlich hat der VfGH diese Verpflichtung zur Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalters bisher nicht benannt, wenngleich man sie implizit wohl auch schon aus dem Programmentgelt-Erkenntnis ableiten könnte - denn welchen Sinn hätte eine Finanzierungsgarantie, wenn es nicht zwingend eine zu finanzierende Einrichtung gäbe?
ORF forever?
Die Bestandsgarantie heißt weder, dass es den ORF auf ewig geben muss (der Gesetzgeber könnte auch einen neuen, anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter einrichten), noch dass der Auftrag unverändert bleiben müsste. Wesentlich ist aber, dass dem ORF (oder einem allenfalls an seine Stelle tretenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Veranstalter) "seine nach Maßgabe des BVG Rundfunk und des Art. 10 EMRK funktionsadäquate Stellung zukommen" muss.
Das bedeutet insbesondere, dass dieser Rundfunkveranstalter "umfassend die Freiheit des öffentlichen Diskurses im Wege des Rundfunks gewährleisten" muss (siehe Rn. 61 im aktuellen Programmentgelt-Erkenntnis und Rn. 37 im Programmentgelt-Erkenntnis) und dass es bei den Gestaltungsvorgaben auf "die demokratische und kulturelle Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Gesamtrundfunkordnung" ankommt (siehe Rn. 62 im aktuellen Programmentgelt-Erkenntnis und Rn. 45 im Programmentgelt-Erkenntnis; siehe auch Rn. 23 des Programmentgelt-Erkenntnisses, der auf "die demokratische und kulturelle Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" abstellt).
Eine allfällige Änderung der Aufgabenstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (eine Änderung des öffentlich-rechtlichen Auftrags) muss diese Grenzen beachten. Änderungen, durch die der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Bedeutung für den öffentlichen Diskurs verlieren oder die ihm seine demokratische und kulturelle Bedeutung nehmen könnten, würden den verfassungsrechtlichen Rahmen, den das BVG Rundfunk und Art. 10 EMRK setzen, überschreiten.
Der VfGH, der ja über konkrete Anträge zu entscheiden hatte und nicht in der Rolle eines Gutachters ist, gibt in seinen Erkenntnissen natürlich keine konkreten Hinweise darauf, ab wann bzw. bei welchen Änderungen die "funktionsadäquate Stellung" des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in diesem Sinne gefährdet wäre und damit eine verfassungswidrige Auftrags- oder Organisationsänderung vorläge.
Eine Auftragsänderung, die den ORF (oder einen an seine Stelle tretenden öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter) etwa auf einen reinen Informationssender reduzieren oder ihm sonst wesentliche Elemente des derzeitigen Kernauftrages (vgl. § 4 ORF-G) entziehen würde, könnte meines Erachtens schon deshalb verfassungswidrig sein, weil der ORF damit seine Bedeutung im öffentlichen Diskurs verlieren würde. Ein "Zurechtstutzen" des ORF, sodass er im Ergebnis zwar noch existieren, aber nur mehr ein Nischenpublikum bedienen würde, wäre jedenfalls mit der Funktions- und Finanzierungsverantwortung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ebensowenig vereinbar wie mit der institutionellen Verpflichtung, eine dem BVG Rundfunk entsprechende Programmveranstaltung durch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter zu organisieren.
Festzuhalten ist auch, dass der VfGH sehr deutlich die doppelte verfassungsrechtliche Absicherung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einerseits durch das BVG Rundfunk und andererseits durch Art. 10 EMRK betont. Selbst eine innerstaatliche Verfassungsänderung durch Aufhebung oder Modifikation des BVG Rundfunk hätte damit - solange Art. 10 EMRK als innerstaatliche Verfassungsnorm bestehen bleibt - wohl keinen wesentlichen Einfluss auf die Anforderungen an die Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, wie sie der VfGH in den Erkenntnissen zum Programmentgelt und zu den ORF-Gremien dargestellt hat.
Die Rundfunkordnung als eingezäunter Garten
Der VfGH spricht in diesem Zusammenhang von der (durch das BVG Rundfunk und Art. 10 EMRK) "verfassungsrechtlich eingehegten Rundfunkordnung". Das ist ein schönes Bild: eine einfachgesetzliche Rundfunkordnung, rund um die gleich zwei stabile Zäune stehen, um Gefährdungen der Rundfunkfreiheit abzuwehren.
Wenn also die österreichische Rundfunkordnung nun ein verfassungsrechtlich sorgsam (gleich doppelt) eingehegter Garten ist, dann wäre es nun auch an der Zeit, sich der Kultivierung des Gartens zu widmen und das ORF-Gesetz ebenso sorgsam entsprechend dem VfGH-Erkenntnis anzupassen.
Und das Bild vom Garten erinnert mich an den Schluss von Candide ou l’optimisme von Voltaire (deutsch ursprünglich als "Candide oder die beste aller Welten" erschienen):
Cela est bien dit, répondit Candide, mais il faut cultiver notre jardin.
Das ist gut gesagt (vom VfGH), aber wir müssen unseren Garten bestellen.
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