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Monday, December 21, 2015

EGMR: Rechtsanwalt muss es aushalten, auf einem Bewertungsportal als inkompetent bezeichnet zu werden

Vergangene Woche hat der EGMR seine Entscheidung vom 24. November 2015 im Fall Włodzimierz Kucharczyk gegen Polen (Appl. no 72966/13) bekanntgegeben. Darin hat er die Beschwerde eines polnischen Anwalts, der sich durch ein Posting auf einem Bewertungsportal in seiner Ehre verletzt fühlte, als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Die Entscheidung zieht recht weite Grenzen für die Kritik an anwaltlichen Fähigkeiten und kommt überdies zum Ergebnis, dass Art 8 EMRK nicht dazu zwingt, anonyme (oder pseudonyme) Postings generell zu untersagen.

Kommentar auf dem Bewertungsportal
Auf der Website www.znanyprawnik.eu war zum beschwerdeführenden Rechtsanwalt ein Eintrag, in dem 15 von 18 Kommentaren zu seiner Person sehr positiv für ihn waren. Das erste Posting allerdings bewertete seine Leistung als "very poor"; weiters hieß es darin (in der Übersetzung des EGMR): "I advise against [using] this attorney. [He] is utterly ignorant of his job. [He is] disorganised and incompetent." Der Kommentar war unter Pseudonym verfasst worden.

Ausgangsverfahren
Da sich Portalbetreiber weigerte, den Eintrag zu löschen, erstattete der Anwalt Strafanzeige wegen Verleumdung gegen den (unbekannten) Verfasser. Dieses Verfahren wurde eingestellt, weil der Portalbetreiber mitteilte, dass er die IP-Adresse der registrierten Nutzer nicht speichern konnte und so der Verfasser nicht ermittelt werden konnte. In der Folge ging der Anwalt gegen den Portalbetreiber zivilgerichtlich vor, weil dieser durch die Weigerung, das Posting zu löschen, seinen beruflichen Ruf ruiniert und in seine Persönlichkeitsrechte eingegriffen habe. Dabei blieb der Anwalt in allen Instanzen erfolglos (unter anderem im Hinblick darauf, dass das Posting selbst nicht rechtswidrig war und der Portalbetreiber daher auch nach E-Commerce-Recht nicht zur Entfernung verpflichtet war). Der Oberste Gerichtshof führte auch eine Abwägung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung durch und hielt fest, dass der Anwalt einen Beruf mit öffentlichem Vertrauen ausübe und daher öffentliche Bewertung und Meinungen akzeptieren müsse. Das Posting sei auch nicht besonders herabwürdigend noch sei es im Tonfall aggressiv und es habe auch nicht darauf abgezielt, den Anwalt lächerlich zu machen oder seinen Ruf als Anwalt zu zerstören.

Der Anwalt wandte sich an den EGMR, wobei sein Beschwerdevorbringen - er stützte sich nämlich auf Art 6 und Art 10 EMRK - auch nicht gerade für eine besonders positive Beurteilung in der Anwaltsbewertung sprechen. Der EGMR bog das missglückte Vorbringen aber um und prüfte es richtig unter Art 8 EMRK.

Entscheidung des EGMR
Da der Anwalt sich nicht gegen eine staatliche Aktion wandte, war zu prüfen, ob der Staat die sich aus Art 8 EMRK ergebenden positiven Verpflichtungen zum adäquaten Schutz des beruflichen Rufs verletzt habe. Der EGMR verweist dazu gleich auf den notwendigen Ausgleich zwischen den Interessen auf Schutz des guten Rufs und auf freie Meinungsäußerung. Ein Faktor, der bei dieser Abwägung zu berücksichtigen ist, ist die Position der von einer Veröffentlichung betroffenen Person.

- Anwaltsberuf als "profession ob public trust"
Die nationalen Gerichte hatten nicht festgestellt, ob der Anwalt etwa "public figures" vertreten hat oder sonst in aufsehenerregenden Fällen tätig war. Das hindert den EGMR aber nicht, da auch ein Anwalt ein unverzichtbares Element des Justizsystems ist und er einen Beruf öffentlichen Vertrauens ausübt. Die Öffentlichkeit hat daher ein Interesse an Kommentaren über die beruflichen Fähigkeiten eines Anwalts - und Anwälte müssen damit leben, dass sie von jedermann, mit dem sie beruflichen Kontakt hatten, beurteilt werden. Wörtlich heißt es in der Entscheidung:
[...]it can readily be accepted that although an attorney has a different status to that of a judge or a prosecutor, his profession is nevertheless one of public trust. As such, he is an indispensable element of the justice system. Whether hired privately or assigned to represent someone under the legal-aid scheme, the role of an attorney is not merely to advise a client on the material aspects of a case or to ensure that a client’s economic interests are well represented vis-à-vis the adversary. His role goes well beyond this private aspect of an attorney-client relationship because that role is primarily to ensure that a person’s right to a fair trial is respected, whether in the determination of such person’s civil rights and obligations or in respect of any criminal charge against him. It is within this context that comments on a lawyer’s professional skills constitute matters in which the community at large has an interest. It follows that, as rightly pointed out by the domestic courts in the instant case, the applicant, as a practising lawyer, should have accepted that he might be subjected to evaluation by anyone with whom he had ever had any professional dealings. [Hervorhebung hinzugefügt]
- Werturteil
Der EGMR teilt auch die Ansicht der polnischen Gerichte, wonach es sich beim Posting um ein Werturteil gehandelt hat, das nicht mehr transportiert habe als den kritischen Eindruck, den der Verfasser von den juristsichen Fähigkeiten des Anwalts hatte ("conveying no more than the author’s critical impressions of the applicant’s legal skills"). Das Posting war nicht beleidigend oder vulgär, enthielt keine Drohungen und keine herabwürdigenden Anschuldigungen, etwa dass der Anwalt ein Disziplinarvergehen oder ein strafrechtliches Delikt begangen habe. Obwohl die Kritik also den Ruf des Anwalts berührt hat, war sie nicht verletzend, schockierend oder verstörend, und sie hat den Ruf des Anwalts auch nicht so sehr beschädigt, dass sie über die Grenzen zulässiger Kritik hinausgegangen wäre. Eine Beschränkung der Äußerungsfreiheit des Posters wäre daher nach Art 10 EMRK unverhältnismäßig gewesen.

- Art 8 EMRK verlangt keine Klarnamenpflicht für Postings
Eine interessante Frage streift der EGMR mehr, als dass er sie abschließend löst (was in einer Unzulässigkeitsentscheidung auch nicht zu erwarten ist): Müsste der Staat dafür vorsorgen, dass der Verfasser des Postings ausfindig gemacht werden kann? Der EGMR verweist dazu auf den Fall K.U. gegen Finnland (im Blog dazu hier); die Umstände im vorliegenden Fall seien aber nicht einmal entfernt so schwerwiegend wie in jenem Fall ("grooming" von Minderjährigen). Nach den polnischen Rechtsvorschriften hätte der Anwalt zudem, wenn das Posting rechtswidrig gewesen wäre, eine Verfügung gegen den Portalbetreiber sowie allenfalls eine Entschädigung (und als polnische Spezialiät auch eine Entschuldigung) erreichen können; der Portalbetreiber hätte das Posting in diesem Fall auch entfernen müssen, um nicht selbst haftbar zu werden. Dieses System, das (abgesehen von der Entschuldigung) im Wesentlichen auf Basis der E-Commerce-Richtlinie in allen EU-Staaten umgesetzt sein sollte, genügt den Anforderungen des Art 8 EMRK.

Anmerkung
Nach österreichischem Recht besteht ein extrem weitgehendes (begründungsloses) Widerspruchsrecht gegen jede "nicht gesetzlich angeordnete Aufnahme in eine öffentlich zugängliche Datenanwendung" (§ 28 Abs 2 DSG). Wer also nicht in einem Bewertungsportal genannt werden möchte, könnte dies ohne weitere Begründung vom Betreiber verlangen. Der Verfassungsgerichtshof hat diese Bestimmung allerdings vor kurzem (Erkenntnis vom 08.10.2015, G 264/15) wegen Widerspruchs zu Art 10 EMRK aufgehoben. Ausgangsfall beim VfGH war ein Ärztebewertungsportal, also eine durchaus vergleichbare "Datenanwendung" wie in dem vom EGMR entschiedenen Fall (auch der EGMR vergleicht Anwälte und Ärzte und verweist in seiner Entscheidung auf den Fall Bergens Tidende, in dem er festhielt, dass Vorwürfe von Patientinnen gegen einen Schönheitschirurgen Angelegenheiten des öffentlichen Interesses betreffen - der VfGH bezieht sich in seinem Erkenntnis auch auf dieses Urteil des EGMR). Der VfGH hat allerdings für das Außerkrafttreten des § 28 Abs 2 DSG eine sehr lange Frist - bis zum 31.12.2016 - gesetzt. Dennoch wird, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist (was im Bereich des E-Commerce-Rechts der Fall wäre), die Aufhebungsfrist wohl dann nicht zu berücksichtigen sein, wenn dies in Widerstreit mit Art 11 GRC steht.

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