Pages

Wednesday, October 21, 2015

Wie ein Pferd aussieht, weiß vielleicht doch nicht jeder: EuGH zum Videoangebot einer Zeitungs-Website als audiovisueller Mediendienst

Der EuGH hat heute sein Urteil in der Rechtssache C-347/14 New Media Online verkündet (siehe auch die Pressemitteilung des EuGH; zum Vorabentscheidungsersuchen siehe im Blog hier). Dabei ging es im Wesentlichen um die Frage, ob die Bereitstellung von Videos mit kurzen Sequenzen aus lokalen Nachrichten, Sport und Unterhaltung auf einer Subdomain einer "elektronischen Ausgabe einer Tageszeitung" als audiovisueller Mediendienst (auf Abruf) im Sinne der RL über audiovisuelle Mediendienste anzusehen ist.

Der Generalanwalt hatte in seinen Schlussanträgen noch gemeint „Wie ein Pferd aussieht, das weiß ein jeder“, und darauf aufbauend Folgendes geschrieben:
Der Umstand, dass es in der Theorie Schwierigkeiten bereitet, den audiovisuellen Mediendienst abstrakt zu definieren, bedeutet nicht, dass er auch in der Praxis schwer zu identifizieren ist. Der größte Teil der Dienste dieser Art beruht darauf, dass auf Internetseiten Langspielfilme, Fernsehserien, Sportübertragungen usw. angeboten werden. Es handelt sich also um Formen von Sendungen, die leicht als typische Fernsehsendungen eingestuft werden können. Tauchen jedoch Zweifel auf, ist im Einklang mit dem Ziel der Richtlinie über die audiovisuellen Mediendienste in der Weise zu entscheiden, dass sie auf multimediale Internetseiten keine Anwendung findet. Als audiovisuelle Mediendienste dürfen daher nur diejenigen Internetseiten angesehen werden, die zweifelsfrei alle Kriterien dieses Dienstes erfüllen.
Der Generalanwalt war daher auch zum Ergebnis gekommen, dass die RL über audiovisuelle Mediendienste dahin auszulegen sei, dass weder die Internetseite einer Tageszeitung, die audiovisuelles Material enthält, noch irgendein Teilbereich dieser Internetseite als ein audiovisueller Mediendienst im Sinne dieser Richtlinie anzusehen sei.

Vielleicht ist es aber doch nicht so klar, wie ein Pferd aussieht: Der EuGH ist jedenfalls von den Schlussanträgen abgewichen und hat die vom österreichischen Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Fragen folgendermaßen beantwortet:
1. Der Begriff „Sendung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) ist dahin auszulegen, dass er die Bereitstellung kurzer Videos, die kurzen Sequenzen aus lokalen Nachrichten, Sport oder Unterhaltung entsprechen, in einer Subdomain der Website einer Zeitung erfasst.
2. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i der Richtlinie 2010/13 ist dahin auszulegen, dass bei der Beurteilung des Hauptzwecks eines in der elektronischen Ausgabe einer Zeitung angebotenen Dienstes der Bereitstellung von Videos darauf abzustellen ist, ob dieser Dienst als solcher in Inhalt und Funktion gegenüber der journalistischen Tätigkeit des Betreibers der betreffenden Website eigenständig und nicht nur eine – insbesondere wegen der zwischen dem audiovisuellen Angebot und dem Textangebot bestehenden Verbindungen – unabtrennbare Ergänzung dieser Tätigkeit ist. Diese Beurteilung ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Auch Videos (sehr) kurzer Dauer (nach dem Sachverhalt ging es um Videos von "30 Sekunden bis mehrere Minuten") stehen demnach einer Einstufung als "Sendung" nicht entgegen (Rn 20). Zudem geht der EuGH davon aus, dass sich die Videos - offenbar allein weil sie auf der Website zum Abruf bereitstehen - "wie ein Fernsehprogramm an ein Massenpublikum richten und bei diesem im Sinne des 21. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2010/13 eine deutliche Wirkung entfalten können" (Rn 21); ob die Videos tatsächlich ein Massenpublikum erreichen (und bei diesem "deutliche Wirkung" entfalten), scheint es daher nicht anzukommen. Wesentlich ist der Umstand, dass die Videos in Wettbewerb zu den von den (regionalen) Fernsehsendern angebotenen Informationsdiensten treten (Rn 23) bzw dass gleiche Wettbewerbsbedingungen (Rn 31) erreicht werden.

[Da ich am Ausgangsverfahren beim Verwaltungsgerichtshof als Richter beteiligt bin, kommentiere ich die Angelegenheit nicht weiter - auch nicht die Reaktion des Verbandes Österreichischer Zeitungen. Update: siehe auch die Berichte auf lto.de, in der Wiener Zeitung, auf derstandard.at, auf kurier.at, auf EurActiv.de]

Tuesday, October 20, 2015

Große Kammer des EGMR - Fall Pentikäinen: "verantwortungsvoller Journalismus" verlangt die Einhaltung allgemeiner Rechtsvorschriften

Die Große Kammer des EGMR hat heute das Urteil im Fall Pentikäinen gegen Finnland verkündet, in dem es um die Verurteilung eines Pressefotografen wegen Missachtung polizeilicher Anordnungen bei einer Demonstration ging. Die Große Kammer bestätigte das in dieser Sache ergangene Kammer-Urteil vom 04.02.2014 (im Blog hier eher kritisch beleuchtet). Nach den Urteilen in den Fällen Delfi gegen Estland und Perinçek gegen Schweiz ist dies nun das dritte Urteil in Folge, in dem die Große Kammer in Streitfällen nach Art 10 EMRK die Kammer-Urteile - ungeachtet teils recht heftiger Kritik - bestätigt hat.

Der Sachverhalt ist etwas unübersichtlich und in den Details nicht ganz unstrittig, und der EGMR hebt auch hervor, dass das Ergebnis im Licht der spezifischen Umstände des Falles zu sehen ist, wobei man darauf Bedacht nehmen müsse, jegliche Beschränkung der "watch-dog"-Rolle der Medien zu vermeiden ("The Court would stress that this conclusion must be seen on the basis of the particular circumstances of the instant case, due regard being had to the need to avoid any impairment of the media’s 'watch-dog' role"). Dennoch bringt das Urteil ein eher restriktives Verständnis von "verantwortungsvollem Journalismus" ("responsible journalism") ins Spiel, das - da es immerhin das Urteil einer Großen Kammer ist - weitreichende Folgen haben könnte. Die von vier Richtern vertretene Minderheitsmeinung (siehe dazu ganz unten) sieht in diesem Urteil immerhin die Gefahr von signifikanten "chilling effects" auf die Berichterstattung über Demonstrationen und ein Einfallstor für weitgehende Maßnahmen gegenüber journalistischem Handeln im Falle von Polizeigewalt.

Zum Ausgangsfall (zusammengefasst aus dem Blogpost vom 04.02.2104):
Am 9. September 2006 fand in Helsinki ein "Asia-Europe-Meeting" statt, gegen das mit einer "Smash ASEM"-Kundgebung demonstriert wurde.Zu Beginn der Demo wurden Flaschen, Steine und mit Farbe gefüllte Gläser auf die Polizei und umstehende Personen geworfen. Als die Demonstranten die Polizeiabsperrungen durchbrechen wollten, löste die Polizei die Kundgebung auf und forderte die Demonstranten auf, den Platz zu verlassen. Verbleibende Demonstranten wurden eingekesselt; die Polizei erlaubte ihnen, den Platz zu verlassen, stellte aber ihre Identität fest. Eine Kerngruppe von rund zwanzig Demonstranten verblieb auf dem Platz, obwohl die Polizei angekündigt hatte, sie festzunehmen, wenn sie den Platz nicht verlassen. Unter diesen auf dem Platz verbliebenen Demonstranten war auch der Beschwerdeführer vor dem EGMR, der Pressefotograf Markus Pentikäinen. Er wurde - mit den anderen Demonstranten - festgenommen und blieb fast 18 Stunden in Polizeigewahrsam.

Im nachfolgenden Gerichtsverfahren wegen Nichtbefolgung einer polizeilichen Anordnung wurde der Beschwerdeführer schuldig gesprochen; von der Verhängung einer Strafe wurde jedoch im Hinblick auf die Stellung des Beschwerdeführers als Journalist abgesehen; er habe sich mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert gesehen, einerseits von der Polizei, die ihn zum Verlassen, und andererseits von seinem Dienstgeber, der ihn zum Bleiben aufgefordert hatte.

Internationale Standards unnd Rechtsvergleichung
Der EGMR hält fest, dass in internationalen und europäischen "Standards" kaum Hinweise auf das Verhalten von Journalisten während Demonstrationen zu finden seien. Einige Empfehlungen würden aber das Verhalten der Polizei betreffen, so etwa die OSCE/ODIHR/Venice Commission Guidelines on freedom of peaceful assembly, in denen es heißt, dass ua Journalisten bei der Auflösung einer Versammlung nicht daran gehindert werden dürfen, das Handeln der Polizei zu beobachten. Aus dem "Case Law", das man nur in fünf Konventionsstaaten - darunter Österreich (gemeint wohl das Erkenntnis des VfGH vom 20.09.2012, B 1359/11) - fand, seien keine generellen Schlüsse abzuleiten.

Rechtvergleichend stellt der EGMR fest, dass alle untersuchten Konventionsstaaten auf das Verhalten von Journalisten bei der Berichterstattung über Demonstrationen das allgemeine Strafrecht anwenden; auch die Befugnisse der Polizei gegenüber Journalisten bei gewalttätigen Demonstrationen seien in der überwiegenden Mehrheit der Staaten nicht gesondert geregelt. Schließlich würden auch die Verhaltenskodizes für Journalisten auf das Verhältnis zwischen Journalisten und Polizei bei Demonstrationen nicht eingehen.

Eingriff - gesetzliche Grundlage - legitimes Ziel
Dass ein Eingriff vorlag, wurde zwar ebenso bestritten (von der Regierung), wie dass dafür eine gesetzliche Grundlage bestand (vom Beschwerdeführer); beides wird vom EGMR knapp behandelt und bejaht (Rn 82-85). Dass die gesetzliche Regelung einem legitimen Ziel dient, stand außer Streit (Rn 86). Damit bleibt nur mehr die Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Zur "Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft"
Der EGMR verweist zu den allgemeinen Prinzipien eingangs auf die Urteile der Großen Kammer Stoll, Animal Defenders International und Morice (Rn 87) und betont anschließend die entscheidende Rolle der Medien bei der Vermittlung von Informationen darüber, wie die Behörden mit Demonstrationen und Ausschreitungen umgehen. Jeder Versuch, Journalisten vom Ort einer Demonstration wegzuweisen, müsse daher einer strengen Kontrolle unterzogen werden (Rn 89).

Verantwortungsvoller Journalismus: Der Schutz des Art 10 EMRK für Journalisten steht unter dem Vorbehalt, dass sich diese redlich verhalten, um präzise und verlässliche Information in Übereinstimmung mit den Grundsätzen eines verantwortungsvollen Journalismus bereitzustellen ("subject to the proviso that they act in good faith in order to provide accurate and reliable information in accordance with the tenets of responsible journalism"). Dieses Konzept des verantwortungsvollen Journalismus ist nicht auf den Inhalt der Informartion beschränkt, sondern auch auf das Verhalten des Journalisten. In Rn 90 des Urteils heißt es dazu:
However, the concept of responsible journalism, as a professional activity which enjoys the protection of Article 10 of the Convention, is not confined to the contents of information which is collected and/or disseminated by journalistic means. That concept also embraces, inter alia, the lawfulness of the conduct of a journalist, including, and of relevance to the instant case, his or her public interaction with the authorities when exercising journalistic functions. The fact that a journalist has breached the law in that connection is a most relevant, albeit not decisive, consideration when determining whether he or she has acted responsibly.
Mit anderen Worten: wenn sich ein Journalist nicht an die Rechtsvorschriften hält (im konkreten Fall eine Anordnung der Polizei, den Platz zu verlassen), ist das ein entscheidender Faktor für die Beurteilung, ob "verantwortungsvoller Journalismus" vorliegt, der den Schutz des Art 10 EMRK genießt. Das ist eine Aussage im Urteil der Großen Kammer, die in dieser Direktheit bisher noch nicht in der Rechtsprechung des EGMR zu finden war.

Kennzeichnungspflicht für Journalisten? Zur Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den konkreten Fall hält der EGMR zunächst fest, dass die Anordnungen der Polizei, insbesondere auch die Anweisung, den Platz zu verlassen, gerechtfertigt waren, zumal mit Gewaltuasschreitungen zu rechnen war (Rn 96; interessant übrigens auch das Setup: 50 Demonstranten, 500 "bystanders", 50 Journalisten, 480 Polizisten).

Der Pressefotograf war bis zu seiner Festnahme nicht gehindert worden, Fotos zu machen (sein letztes Foto zeigte den festnehmenden Polizisten). Aufgrund seiner dunklen Kleidung, die dem Dresscode der Demonstranten entsprach, war er als Journalist nicht leicht identifizierbar; weder ein Presse-Badge war zu sehen, noch irgendein sonstiger Hinweis, zB auf der Kamera, der ihn als Mitarbeiter einer Zeitschrift auswies. Der EGMR statuiert dann eine Art Verpflichtung, sich als Journalist erkennbar zu zeigen (Rn 99)
the Court considers that, had the applicant wished to be acknowledged as a journalist by the police, he should have made sufficiently clear efforts to identify himself as such either by wearing distinguishable clothing or keeping his press badge visible at all times, or by any other appropriate means. He failed to do so.
Der EGMR geht auch davon aus, dass dem Fotografen dei Anordnungen der Polizei bekannt waren und dass ihm als Journalisten, der über Polizeimaßnahmen berichtet, auch die rechtlichen Konsequenzen einer Missachtung polizeilicher Anordnungen bewusst sein mussten. Der Beschwerdeführer sei daher wissentlich das Risiko eingegangen, von der Polizei festgenommen zu werden (Rn 100). Schließlich misst der EGMR auch dem Verhalten der anderen Journalisten Bedeutung bei: diese hatten nämlich die Polizeianweisungen befolgt. Auch der Beschwerdeführer hätte ohne Konsequenzen den Polizeikessel verlassen und außerhalb des Kessels weiter berichten können.

Zur Anhaltung gehen die Sachverhaltsschilderungen auseinander, ob die Polizei Telefon, Kamera und Speicherkarten inspiziert hat; für den EGMR ist wesentlich, dass die gesamte Ausrüstung wieder zurückgegeben wurde, keine Fotos gelöscht worden waren und auch keine Beschränkungen für die Verwendung der Fotos auferlegt worden waren.

Der EGMR hält fest, dass die Demonstration eine Angelegenheit von legitimem öffentlichem Interesse war, sodass die Medien die Aufgabe hatten, darüber zu berichten. Auch hier betont der EGMR allerdings wieder, dass nur der Beschwerdeführer - aber keiner der anderen rund 50 Journalisten - behauptet habe, dass sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden sei (Rn 107). Zudem sei der Eingriff von beschränktem Umfang gewesen, da über die Demonstration auch von außerhalb des Polizeikessels hätte berichtet werden können (Rn. 108).

Vor allem aber, so der EGMR im Hinblick auf die Veurteilung des Beschwerdeführers, geht es nicht um eine Sanktion für journalistisches Arbeiten (Informationsbeschaffung), sondern um die Bestrafung wegen der Weigerung, eine rechtmäßige allgemeine polizeiliche Anweisung am Ende einer gewalttätigten Auseinandersetzung zu befolgen. Dass der Beschwerdeführer Journalist war, berechtigte ihn nicht zu einer Sonderbehandlung: "the fact that the applicant was a journalist did not entitle him to preferential or different treatment in comparison to the other people left at the scene" (Rn 109).

Verantwortungsvoller Journalismus: Anweisungen der Polizei gehen der beruflichen Aufgabe vor!
Der EGMR erkennt, dass Journalisten in Konflikte kommen können zwischen der Pflicht zu rechtmäßigem Handeln und ihrer beruflichen Aufgabe, Informationeen zu beschaffen und zu verbreiten - und er kommt zu einem sehr einfachen Ergebnis: wenn sich der Journalist für seine beruflcihe Aufgabe entscheidet, muss er eben die (straf-)rechtlichen Konsequenzen tragen! Wörtlich heißt es in Rn. 110:
the Court accepts that journalists may sometimes face a conflict between the general duty to abide by ordinary criminal law, of which journalists are not absolved, and their professional duty to obtain and disseminate information thus enabling the media to play its essential role as a public watchdog. Against the background of this conflict of interests, it has to be emphasised that the concept of responsible journalism requires that whenever a journalist – as well as his or her employer – has to make a choice between the two duties and if he or she makes this choice to the detriment of the duty to abide by ordinary criminal law, such journalist has to be aware that he or she assumes the risk of being subject to legal sanctions, including those of a criminal character, by not obeying the lawful orders of, inter alia, the police. [Hervorhebung hinzugefügt]
Schließlich berücksichtigt der EGMR auch, wie üblich, die verhängte Sanktion. Der Beschwerdeführer war zwar verurteilt worden, hatte aber keine Strafe erhalten. Da die Verurteilung nach nationalem Recht damit auch nicht im Strafregister eingetragen wurde, habe sie - so der EGMR - auch "kaum, falls überhaupt", einen 'chilling effect' haben können.

Zusammenfassend hät der EGMR fest, dass die nationalen Behörden einen fairen Ausgleich der widerstreitenden Interessen gefunden hätten. Sie hätten die Medien auch nicht absichtlich an der Berichterstattung hindern wollen und den Beschwerdeführer auch weder während noch nach der Demonstration an der Arbeit gehindert. Der Eingriff sei daher im Sinne des Art 10 EMRK "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" gewesen. Ganz zum Schluss betont der EGMR nochmals, dass diese Schlussfolgerung sich auf die sehr spezifischen Umstände des Falles gründet und man jegliche Beschränkung der "watch-dog"-Rolle der Medien vermeiden müsse (Rn 114).

Zustimmendes Sondervotum der Richterin Motoc
Die rumänische Richterin Motoc verfasste ein zustimmendes Sondervotum, das das Konzept des "verantortungsvollen Journalismus" betont und ausdrücklich von der (nicht weiter belegten) Prämisse ausgeht, dass die Rechte der Journalisten weithin bekannt seien, nicht aber deren Pflichten. Im Ergebnis ist es ihr offenbar vor allem wichtig, nochmal darauf hinzuweisen, dass Journalisten sich nicht alles erlauben können und an die allgemeinen Rechtsvorschriften gebunden sind.

Abweichende Meinung des Richters Spano
Der isländische Richter Spano verfasste eine abweichende Meinung, der die Richter Spielmann, Lemmens und Dedov beitraten. Spano akzeptiert, dass die Festnahme gerechtfertigt war, da der Journalist weder seinen Presseausweis sichtbar getragen noch entsprechend unterscheidungskräftige Kleidung gewählt hatte. Allerdings hat er sich nach der Festnahme als Journalist zu erkennen gegeben und ab diesem Zeitpunkt sei die weitere Anhaltung und nachfolgende Verurteilung nicht mehr erforderlich gewesen. Spano verweist auf das Urteil Stoll, in dem - anders als nach der Mehrheitsmeinung im vorliegenden Urteil - mit der Feststellung, dass der Journalist eine strafrechtliche Bestimmung verletzt habe, die Prüfung durch den EGMR noch nicht zu Ende war, sondern weitere Kriterien geprüft werden mussten: "the interests at stake, the review of the measure by the domestic courts, the conduct of the applicant and whether the penalty imposed was proportionate". Spano führt dies näher aus und kommt zum Ergebnis, dass nach diesen Kriterien die weitere Anhaltung und Verurteilung des Journalisten nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" gewesen wäre. Auch dass die Verurteilung ohne Strafausspruch keine "chilling effects" gehabt habe, sieht Spano ganz anders:
With all due respect, to suggest that the decision to prosecute and convict a journalist for a criminal offence does not, in a case such as the present one, have, by itself, a chilling effect on journalistic activity is overly simplistic and unconvincing. On the contrary, it is in my view not unreasonable to consider that today’s decision, accepting as permissible under Article 10 § 2 of the Convention the prosecution of the applicant and his conviction for a criminal offence, will have a significant deterrent effect on journalistic activity in similar situations occurring regularly all over Europe.
[...] it is not in the least convincing for the majority to attempt to limit their findings to the “particular circumstances of the instant case” (see paragraph 114 of the judgment). On the contrary, it is quite clear that the reasoning of the majority will unfortunately allow Contracting States considerable latitude in imposing intrusive measures on journalistic activity in public settings where force is used by law-enforcement officials. [Hervorhebung hinzugefügt]
Die heutige Entscheidung des EGMR, so meinen also die vier in der Minderheit gebliebenen Richter, werde einen signifikanten Abschreckungseffekt für journalistische Berichterstattung in ähnlichen Situationen haben.
[Update 26.10.2015: siehe nun auch den Beitrag von Dirk Voorhof auf Strasbourg Observers]

Wednesday, October 07, 2015

Europäisches Übersetzungsgericht: wie das EuG den schlesischen Streuselkuchen gerettet hat (off topic)

Man kann ein Gerichtsverfahren verlieren, aber doch sein Ziel erreichen. Dem Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks e.V. ist das heute mit der Abweisung seiner Klage gegen einen Beschluss der Europäischen Kommission vor dem EuG gelungen: die durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 733/2011 eingetragene geschützte geografische Angabe ‚Kołocz śląski‘ oder ‚Kołacz śląski‘ wird zwar nicht gelöscht - aber "Schlesischer Streuselkuchen" darf von deutschen Bäckern weiter verkauft werden (Urteil des Gerichts vom 07.10.2015, T-49/14)

Die Vorgeschichte habe ich in diesem Blog schon dargestellt: ganz knapp zusammengefasst ging es darum, dass die Kommission auf Antrag Polens nach der Verordnung (EG) Nr. 510/2006 die Bezeichnung ‚Kołocz śląski‘ oder ‚Kołacz śląski‘ als geschützte geografische Angabe eingetragen hat. Grundlage solcher Eintragungen ist ein sogenanntes "einziges Dokument", das im EU-Amtsblatt mit dem Eintragungsantrag veröffentlicht wird.

Im konkreten Fall wurde in diesem einzigen Dokument das Erzeugnis ‚Kołocz śląski‘ oder ‚Kołacz śląski‘ (mehrfach) als "schlesischer Streuselkuchen" beschrieben. Als geografisches Gebiet, in dem dieser Kuchen hergestellt werden darf, wurden nur die Woiwodschaft Oppeln sowie einige Kreise der Woiwodschaft Schlesien (in Polen) angegeben.

Nun kann man gegen einen Eintragungsantrag Einspruch erheben, was die deutschen Bäcker aber versäumten. Sie versuchten nun vor den europäischen Gerichten  die Löschung der Eintragung zu erreichen, was freilich ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen war (worauf ich schon in meinem ersten Blogeintrag dazu hingewiesen habe).

Der Aufstand der (deutsch)schlesischen Weber Bäcker, die fürchteten, keinen schlesischen Streuselkuchen mehr verkaufen zu dürfen, war - trotz Klagsabweisung - aber im Ergebnis dennoch erfolgreich. In seinem heutigen Urteil hat das EuG seine Kompetenz zur Feststellung des Sachverhalts genützt und autoritativ entschieden, wie die Worte ‚Kołocz śląski‘ oder ‚Kołacz śląski‘ richtig zu übersetzen sind: als "Schlesischer Kuchen" nämlich, nicht als "Schlesischer Streuselkuchen" - diese Bezeichnung war bloß ein redaktioneller Fehler. Schlesischer Streuselkuchen kann also weiter verkauft werden. Zitat aus dem Urteil:
53   Insoweit ist festzustellen, dass „Schlesischer Kuchen“ die zutreffende Übersetzung der geschützten geografischen Angabe „Kołocz śląski“ oder „Kołacz śląski“ ist.
[...]
56   Nach alledem ist davon auszugehen, dass die Erwähnung der Bezeichnung „Schlesischer Streuselkuchen“ in der deutschen Fassung des einzigen Dokuments ein redaktioneller Fehler ist.
57   Folglich werden „Schlesische Streuselkuchen“ nicht von der geschützten geografischen Angabe „Kołocz śląski“ oder „Kołacz śląski“ erfasst, so dass Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1151/2012 deutschen Bäckern, die „Schlesische Streuselkuchen“ herstellen und vermarkten, nicht entgegengehalten werden könnte.
Die historisch sicher interessante Frage, ob Schlesien in der Durchführungsverordnung der Kommission geografisch "richtig" abgegrenzt ist, brauchte das Gericht daher nicht zu beantworten:
78   Im vorliegenden Fall wurde die geschützte geografische Angabe „Kołocz śląski“ oder „Kołacz śląski“ in polnischer Sprache für die Woiwodschaft Oppeln und bestimmte Teile der Woiwodschaft Schlesien eingetragen (vgl. einziges Dokument).
79   Diese Abgrenzung hindert deutsche Bäcker jedoch nicht daran, in ganz Deutschland „Schlesische Streuselkuchen“ herzustellen, die keine durch die Eintragung geschützten „Kołocz śląski“ oder „Kołacz śląski“ sind (siehe oben, Rn. 57).
Dass schließlich die durch die Grundrechtecharta geschützten Grundrechte der deutschen Bäcker durch die Eintraung der geschützten geografischen Angabe „Kołocz śląski“ oder „Kołacz śląski“ gefährdet würden, kann das EuG auch nicht erkennen; da bleibt auch noch Zeit für den kleinen didaktischen Hinweis an die Klagsvertreter, dass deren weiteres "Argument" einer Verletzung des deutschen Grundgesetzes vor einem Unionsgericht nichts verloren hat (Rn. 87).

PS: Ich weiß, in diesem Blog wären in diesen Tagen eher andere Beiträge zu erwarten - zu den EuGH-Urteilen in den Rechtssachen C-362/14 Schrems, C-346/13 Base Company oder C-508/14 T-Mobile Czech Republic and Vodafone Czech Republic und zu den Schlussanträgen in der Rechtssache C-314/14 Sanoma Media Finland, jeweils vom 06.10.2015. Aber dafür bräuchte ich einfach mehr Zeit als für diese kleine Notiz - und freie Zeit zum Bloggen ist derzeit sehr knapp.