Der Ausgangsfall
Sorin Apostu war Bürgermeister von Cluj-Napoca (Klausenburg), der zweitgrößten rumänischen Stadt. Die Antikorruptionseinheit der Staatsanwaltschaft ermittelte gegen ihn, seine Frau und drei Geschäftsleute wegen des Verdachts wiederholter Korruption und erwirkte die Genehmigung zum Abhören seines Telefons. Im November 2011 wurde sein Wohnsitz und sein Büro durchsucht; er selbst wurde in Untersuchungshaft genommen, die mehrfach verlängert wurde. [Das Korruptionsstrafverfahren ist nach Information des EGMR noch in Gang, laut Wikipedia wurde Apostu in zweiter Instanz zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt].
In der Folge fanden Auszüge aus Telefonaten von Herrn Apostu den Weg in die Presse, noch bevor die Anklage fertiggestellt war. Auch Schlagzeilen von Presseberichten wiesen darauf hin, dass Auszüge aus den aufgezeichneten Gesprächen veröffentlicht würden (zB in der englischen Übersetzung des EGMR: "Shocking revelations in the Apostu file. The names of all the persons under investigation and new excerpts from the telephone conversations.", "Excerpts of intercepted phone conversations: Sorin Apostu, the mayor of Cluj, acknowledged that he had at home three telephones with pre-paid cards, in order not to be intercepted"). Weitere Ausschnitte aus den Abhörprotokollen wurden auch nach Anklageerhebung in der Presse veröffentlicht. Auch weitere Bestandteile der Ermittlungsakten wurden in der Presse veröffentlicht und kommentiert. So wurde etwa die Begrüdnung eines Haftbeschlusses wörtlich in einer Zeitung publiziert.
Viele Presseberichte bezogen sich auf Aspekte des Privatlebens von Herrn Apostu, die keinen Bezug zum Strafverfahren hatten, aber auf Informationen aus dem Strafakt beruhten (Überschrift zB: "Juicy details from the private life of mayor Sorin Apostu! The mayor of Cluj, romance with a subordinate").
Das Urteil des EGMR*
- Zur Zulässigkeit: Kein wirksames Rechtsmittel gegen Leaks
Strittig war schon, ob der Beschwerdeführer innerstatliche Rechtsmittel ausgeschöpft hatte, weil er die Verletzung seines Privatlebens nicht vor die nationalen Gerichte gebracht hatte. Nach Ansicht der Regierung hätte er Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs oder Verrat von Berufsgeheimnissen erstatten können; weiters hätte er eine Disziplinaruntersuchung betreffend die Umstände der Leaks verlangen können. Und schließlich hätte er nach dem Gesetz über audiovisuelle Medien gegen die Medien und überhaupt nach allgemeinem Schadenersatzrecht vorgehen können.
Der EGMR beurteilt diese möglichen Wege als nicht geeignet: Der Kern der Beschwerde hatte sich nicht gegen die Veröffentlichung der Auszüge aus den Ermittlungsakten in der Presse gerichtet, sondern gegen den Umstand, dass die Behörden es zugelassen hatten, dass die Information an die Presse gelangte. Mögliche Beschwerden gegen Jorunalisten oder Medien sind daher für den Fall nicht relevant. Da auch die Person, die für das Leak verantwortlich war, nicht bekannt war, wäre ein auf das allgemeine Schadenersatzrecht gestütztes Vorgehen aussichtslos.
Und da schließlich auch nicht feststand, wo die Quelle des Leaks war, wäre es zudem zu beschwerlich gewesen, gegen alle Institutionen vorzugehen, durch deren Hände die Akten gegangen waren. Der Beschwerdeführer hatte daher gegen die Leaks kein wirksames Rechtsmittel, sodass die Beschwerde zulässig war.
- Ein Eingriff, gegen den sich der Betroffene nicht wehren konnte
Nach der Rechtsprechung des EGMR ist es grundsätzlich Sache des Staates, seine Dienste so zu organisieren und seine Mitarbeiter so zu schulen, dass sichergestellt ist, dass keine vertrauliche oder geheime Information offengelegt wird (Urteil Stoll, Abs. 61 und 143, Urteil Craxi (Nr 2), Abs. 82). Grundsätzlich sind das Recht auf Achtung des Privatlebens und die Freiheit der Meinungsäußerung gleiche Rechte nach der EMRK und haben gleiches Recht auf Schutz, wenn es zu einer Abwägung kommt (Urteil Cășuneanu, Abs. 82).
Das Leaken der Abhörprotokolle (noch vor Anklageerhebung), im Zusammenhang mit der nachfolgenden Publikation, stellte einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens dar. Dem Beschwerdeführer stand zum Zeitpunkt der Leaks noch keine Möglichkeit für eine sofortige Verteidigung offen, da die strafrechtlichen Vorwürfe noch nicht vor Gericht geprüft wurden und die Authentizität und Richtigkeit der Protokolle nicht bekämpft werden konnte. Zudem hatte der Beschwerdeführer keine Möglichkeit, sich über die Leaks bei den Behörden/Gerichten zu beschweren.
- Keine adäquate Reaktion der Behörden
Dem EGMR stellt sich sodann die Frage, ob die Behörden ihre positiven Verpflichtungen unter Art 8 EMRK erfüllten. Die Veröffentlichung diente jedenfalls nicht dem Vorantreiben der strafrechtlichen Verfolgung. Die Informationen wären mit dem Zeitpunkt zugänglich geworden, zudem die förmliche Anklage bei Gericht eingebracht wurde; zudem waren manche der veröffentlichten Gesprächsprotokolle von privater Natur und deren Veröffentlichung diente keinem zwingenden gesellschaftlichen Bedürfnis ("pressing social need").
Telefonüberwachung unterliegt strikter richterlicher Kontrolle und die Ergebnisse der Überwachung dürfen daher auch nicht ohne gleichermaßen genaue richterliche Kontrolle veröffentlicht werden.
Der Zugang zu den Inhalten von Strafakten ist auch (nach den nationalen Verfahrensvorschriften) nicht unbegrenzt, auch nicht für die Presse. Der Richter kann jedoch Zugang gewähren; dabei kann er insbesondere zwischen dem Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung (Pressefreiheit) und dem Recht auf Achtung des Privatlebens abwägen. Eine derartige Möglichkeit besteht nicht, wenn die Information an die Presse geleakt wird. In diesem Fall ist von höchster Bedeutung, ob der Staat seine Dienste so organisiert und seine Mitarbeiter so geschult hat, dass es zu keiner Umgehung der offiziellen Verfahren kommt, und ob der Betroffene eine Möglichkeit zur Abhilfe hat:
In this case, what is of the utmost importance is, firstly, whether the State organised their services and trained staff in order to avoid the circumvention of the official procedures (see Stoll, cited above, § 61) and, secondly, whether the applicant had any means of obtaining redress for the breach of his rights.Da im Beschwerdefall der Staat darin versagt hat, entsprechend seiner Verpflichtung für die sichere Verwahrung der in seinem Besitz befindlichen Information zu sorgen, und da er nach erfolgter Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens auch keine Möglichkeit der Abhilfe bereitstellte, hat er eine Verletzung des Art 8 EMRK zu verantworten.
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*) In seiner Beschwerde an den EGMR wandte sich Apostu vor allem gegen die Haftbedingungen in der Untersuchungshaft; diesbezüglich stellte der EGMR auch eine Verletzung des Art 3 EMRK fest; diese Fragen sind aber für den Themenbereich dieses Blogs nicht relevant und werden daher heir auch nicht behandelt.
Gerade erst hat der VfGH, "redlich bemüht" das Rechtssystem Österreichs EMRK-konform zu gestalten, ein neues Halb-Grundrecht (halb EMRK, halb Datenschutz) wie das sprichwörtliche Häschen aus dem Zylinderhut gezaubert: B1187/2013, das Recht auf Vernichtung von Akten.
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