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Tuesday, December 07, 2010

VO 1/2003 und die Grenzen nationaler Verfahrensautonomie: Schlussanträge zu C-375/09 Tele2 Polska, Urteil C-439/08 VEBIC

1. Tele2 Polska - keine Negativfeststellung durch nationale Wettbewerbsbehörde
In der Rechtssache C-375/09 Tele2 Polska wurden heute die Schlussanträge von Generalanwalt Mazák veröffentlicht. Der Fall nahm seinen Ausgang zwar von einer klassischen Streitigkeit zwischen einem marktbeherrschendem und einem alternativem Telekomunternehmen, betrifft aber keine Frage des Regulierungsrechts, sondern die Anwendung von Art 102 AEUV (ex-Artikel 82 EG) in Verbindung mit der VO 1/2003 durch die nationale Wettbewerbsbehörde (NWB). Art 5 der VO 1/2003 regelt die Zuständigkeit der NWB für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV in Einzelfällen. Die NWB können Entscheidungen erlassen, mit denen
"von Amts wegen oder aufgrund einer Beschwerde Entscheidungen erlassen, mit denen
- die Abstellung von Zuwiderhandlungen angeordnet wird,
- einstweilige Maßnahmen angeordnet werden,
- Verpflichtungszusagen angenommen werden oder
- Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt werden.
Sind die Voraussetzungen für ein Verbot nach den ihnen vorliegenden Informationen nicht gegeben, so können sie auch entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden."
Im Vorlageverfahren geht es um die Auslegung des letzten Satzes: fraglich ist, ob die NWB nach dieser Bestimmung keine Entscheidung treffen kann, mit der eine wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise im Sinne von Art. 102 AEUV verneint wird, wenn sie zum Ergebnis kommt, dass ein Unternehmen nicht gegen das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung verstoßen hat.

Das mag zunächst etwas akademisch klingen, denn bei flüchtiger Betrachtung könnte man meinen, dass zwischen einer Entscheidung, dass für die NWB kein Anlass zum Tätigwerden besteht, und einer Entscheidung, dass das betroffene Unternehmen keinen Missbrauch einer beherrschenden Stellung zu verantworten hat, kaum ein Unterschied besteht. Tatsächlich aber könnten die Folgen sehr unterschiedlich sein: würde ein Missbrauch ausdrücklich verneint, hätte dies - im Sinne von ne bis in idem - Sperrwirkung für ein weiteres Vorgehen der Europäischen Kommission oder einer anderen NWB; spräche die NWB aber bloß aus, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden, würde dies die weitere Verfolgung eines Wettbewerbsverstoßes insbesondere durch die Kommission nicht hindern.

Vor diesem Hintergrund kommt Generalanwalt Mazák in seinen Schlussanträgen zum Ergebnis, dass nach VO 1/2003 negative Entscheidungen "on the merits" (in der Sache selbst, dass etwa kein Missbrauch einer beherrschenden Stellung vorliegt) ausschließlich von der Europäischen Kommission getroffen werden dürfen. Art 5 der VO 1/2003 beschränkt insoweit die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, die der NWB keine weiteren Entscheidungsmöglichkeiten einräumen dürfen, als sie in der VO vorgesehen sind. Ist innerstaatlich etwas anderes vorgesehen (so etwa nach dem im Ausgansgfall maßgebenden polnischen Recht, wonach die NWB, wenn sie keine Verletzung des Missbrauchsverbots belegen kann, aussprechen muss, dass keine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt), dann ist Art 5 der VO 1/2003 direkt anzuwenden (wie dies etwa deutsche, italienische und belgische Behörden bereits getan haben).

2. VEBIC - Beteiligung der NWB an nationalen gerichtlichen Verfahren
Eine heute vom EuGH entschiedene Wettbewerbssache, die mit Telekom- oder Rundfunkrecht nichts zu tun hat, verdient dennoch Erwähnung. Mit Urteil der Großen Kammer in der Rechtssache C‑439/08 VEBIC hat der EuGH nämlich einen wesentlichen Verfahrensgrundsatz für die nationale Anwendung des Unions-Wettbewerbsrechts klargestellt:

Die Verpflichtung einer nationalen Wettbewerbsbehörde, die wirksame Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV sicherzustellen, erfordert, "dass die Wettbewerbsbehörde die Befugnis hat, sich als Antragsgegnerin an einem Verfahren vor einem nationalen Gericht zu beteiligen, das sich gegen die von ihr erlassene Entscheidung richtet." Hätte die NWB nämlich nicht die Rechte als Partei des Verfahrens und wäre sie damit daran gehindert, eine Entscheidung, die sie im Allgemeininteresse getroffen hat, zu verteidigen, würde dies die Gefahr bergen,
"dass das angerufene Gericht völlig in den Angriffsmitteln und Argumenten, die von dem bzw. den klagenden Unternehmen vorgebracht werden, 'befangen' ist. In einem Bereich wie dem der Feststellung von Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln und der Verhängung von Geldbußen, der komplexe rechtliche und wirtschaftliche Beurteilungen umfasst, kann bereits das Bestehen einer solchen Gefahr die Ausübung der den nationalen Wettbewerbsbehörden gemäß der Verordnung obliegenden besonderen Verpflichtung, die wirksame Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV sicherzustellen, beeinträchtigen."
Bemerkenswert ist, dass der EuGH ausdrücklich auch festhält, dass die praktische Wirksamkeit der Art 101 und 102 AEUV auch dann beeinträchtigt ist, wenn sich die NWB "nahezu systematisch nicht an solchen gerichtlichen Verfahren beteiligt."

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