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Thursday, November 02, 2006

"fair comment": wenn Gerichtsberichterstattung zur politischen Satire wird


Die Ausübung der in Art 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Freiheit der Meinungsäußerung ist nicht schrankenlos: sie kann (unter anderem) bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, wie sie einer demokratischen Gesellschaft im Interesse des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind.
Dass sich die Einschätzung der in Österreich in Mediensachen entscheidenden Gerichte und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur Reichweite der möglichen Einschränkung im Einzelfall nicht immer deckt, kann in einer ganzen Reihe von Entscheidungen des EGMR nachgelesen werden, und so sind Medienrechtlern zB Lingens, Oberschlick (und nochmal Oberschlick) oder Scharsach nicht nur als Journalisten ein Begriff, sondern auch als Kurzbezeichnung für einschlägige Entscheidungen des EGMR.
Mit drei am 2.11.2006 verkündeten Urteilen steigen nun auch Samo Kobenter (Der Standard) und Katharina Krawagna-Pfeifer (ehemals Der Standard) in den Kreis jener JournalistInnen auf, die ein nach ihnen benanntes EGMR-Urteil vorweisen können. In beiden Fällen hat der EGMR entschieden, dass durch eine in Österreich erfolgte Verurteilung wegen übler Nachrede eine Verletzung des Art. 10 MRK stattgefunden hat.
Das dritte am 12.11.2006 verkündete Urteil trägt den Namen des Journalisten nicht im Titel, da das medienrechtliche Verfahren in Österreich nur gegen den Medieninhaber (auch hier: Der Standard) gerichtet war. Immerhin aber wird Daniel Glattauer, dessen Bericht von einer Gerichtsverhandlung Auslöser des Verfahrens war, im Urteil als "well-known court room reporter" vorgestellt. In seiner Gerichtsgeschichte hatte er über eine Verhandlung berichtet: angeklagt war ein (ehemaliger) Abgeordneter zum Nationalrat (und dessen Bruder), im Zeugenstand der ehemalige Klubobmann dieser Partei (der nach Zwischenstationen in der Niederösterreichischen Landesregierung und als Volksanwalt nun wieder Abgeordneter zum Nationalrat ist).
Glattauer beschrieb im wesentlichen, dass dieser Ex-Klubobmann, "member of Jörg Haider's former chicken coop" (so wird das im EGMR-Urteil wiedergegeben), sich nicht an allzuviel erinnern konnte, obwohl der angeklagte Ex-Abgeordnete behauptet habe, ihm alle Dokumente übergeben zu haben. Nach dem Protokoll der Verhandlung hatte aber der Ex-Abgeordnete nicht behauptet, die Dokumente direkt dem Ex-Klubobmann übergeben zu haben, sondern einem anderen (nicht genannten, aber wohl mittlerweile auch Ex-)Politiker, den er im Büro des Ex-Klubobmannes getroffen habe.
Der Ex-Klubobmann klagte, der Standard wurde nach § 6 Abs 1 Mediengesetz zu einem Entschädigungsbetrag von 15.000 Schilling verurteilt. Der EGMR erkannte darin eine Verletzung des Art 10 MRK - gewissermaßen ein Routinefall, und (ebenso wie die beiden anderen Entscheidungen Kobenter und Krawagna-Pfeifer) keine wirkliche Überraschung. Die Äußerungen waren "fair comment on matters of public interest." Bemerkenswert ist Absatz 51 des EGMR-Urteils:

"The Court is not convinced by the domestic courts' approach. It disregards the
nature of the article as a political satire and its main thrust which was to
cast doubt on the Freedom Party's ignorance of Mr Rosenstingl's machinations."
Liest man sich den Artikel (er wird im EGMR-Urteil zur Gänze - in englischer Übersetzung - wiedergegeben) durch, so fallen zwar gewisse sarkastische oder ironische Färbungen auf, für die der Autor - wie ihm schon das OLG Wien attestiert hatte - bekannt ist. Dass aber der gesamte - sonst tatsächlich über den Verlauf der Verhandlung berichtende - Artikel als politische Satire eingestuft wurde, gibt schon zu denken: wenn die Berichterstattung nur mehr als Satire verstanden werden kann, was sagt uns das über den konkreten Gegenstand dieser Berichterstattung?

Als PS: im Zusammenhang mit der Strafsache, über die Daniel Glattauer berichtete, steht auch das EGMR-Urteil vom 13.12.2005 in Sachen Wirtschafts-Trend Zeitschriften-VerlagsgmbH gegen Österreich - dort war es um die Lebensgefährtin des angeklagten (Ex-)Abgeordneten gegangen, die sich nicht mit Bonnie (in "Bonnie & Clyde") vergleichen lassen wollte. Der OGH (13.9.1999, 4 Ob 163/99w) sah das ein:
"Eine Gleichsetzung der Klägerin und Peter R*****s mit Bonnie und Clyde in dem beanstandeten Artikel läßt [...] (auch) das Interpretationsergebnis zu, daß der Klägerin damit unterstellt wird, in die Machinationen Peter R*****s verstrickt zu sein oder unter dem Verdacht sonst begangener strafbarer Handlungen zu stehen."

Der EGMR konnte dem nicht folgen:
"The Court, therefore, finds that the conclusion that Mrs G.’s comparison
with 'Bonnie' implied an accusation of her involvement in criminal offences
far-fetched. Given the article’s content and ironical style and the fact that
the term 'Bonnie' was always used together with its correlative 'Clyde', the
Court rather considers that the average reader would have understood 'Bonnie and
Clyde' as a synonym for a couple on the run."
Anders als die wahren Bonnie & Clyde, die im Feuergefecht mit der Polizei verstarben, ist das als niederösterreichische Mutation von Bonnie und Clyde bezeichnete Paar immerhin noch am Leben und glücklich vereint.

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