Pages

Friday, November 20, 2015

"With respect": Court of Appeal hat Zweifel an Reichweite des EuGH-Urteils zur Vorratsdatenspeicherung - neues Vorabentscheidungsersuchen

Der Court of Appeal für England und Wales (Civil Division) hat in einem heute bekanntgegebenen Urteil entschieden, dem EuGH Fragen zur Vorratsdatenspeicherung vorzulegen ([2015] EWCA Civ 1185).

Die Entscheidung wurde in einem Verfahren getroffen, das (ua) von zwei Parlamentariern (dem konservativen David Davis und Tom Watson von Labour) initiiert worden war. Es geht dabei um den Data Retention and Investigatory Powers Act 2014 ("DRIPA"), der es - vereinfacht gesagt - ermöglicht, Telekom-Betreiber zur Speicherung von Vorratsdaten für höchstens zwölf Monate zu verpflichten und der den Zugang zu diesen Daten, unter anderem aus Gründen der nationalen Sicherheit, aber auch des wirtschaftlichen Wohlergehens des UK, regelt. Der (in erster Instanz entscheidende) High Court hatte darin einen Widerspruch zum Unionsrecht gesehen und section 1 von DRIPA ab 1. März 2016 als (teilweise) unanwendbar erklärt (Urteil: [2015] EWHC 2092 (Admin)).

Für den Court of Appeal ist die Sache nicht so eindeutig, er tendiert eher dazu, DRIPA als mit Unionsrecht vereinbar zu beurteilen. Zugleich hat der Court of Appeal erhebliche Zweifel, was denn der EuGH mit dem Urteil zur Vorratsdaten-RL (C-293/12 Digital Rights Ireland und C-594/12 Seitlinger ua) genau festlegen wollte. Höflich, wie es ein englisches Gericht eben sein muss, formuliert der Court of Appeal:
Although the CJEU has pronounced in Digital Rights Ireland, there is, with respect, considerable doubt as to the effect of its decision. On this, we have the misfortune to have come to a provisional view which differs from that of the Divisional Court.
Das "Unglück" des Instanzgerichts, zu einem anderen Ergebnis als das erstinstanzliche Gericht zu kommen, verbunden mit den Zweifeln über die Reichweite des VDS-Urteils, führt also zu einem neuen Vorabentscheidungsersuchen.

Anforderungen an VDS-Richtlinie nicht dieselben wie an nationale VDS-Regeln?
Der Court of Appeal streicht heraus, dass der EuGH die Vereinbarkeit einer EU-Richtlinie mit der Grundrechtecharta zu beurteilen hatte. Was der EuGH als Mindestanforderungen an eine EU-Richtlinie beurteilte, müsse nicht notwendigerweise automatisch auch für nationale Rechtsvorschriften gelten. Die vom EuGH in den RNr 57-59 und 60-62 seines Urteils vorgenommene Aufzählung sei bloß deskriptiv, ein "catalogue of failings and omissions". Da der EuGH die Richtlinie zu beurteilen gehabt habe, habe er nicht auf "safeguards" eingehen können, die auf nationaler Ebene bestehen. Zudem seien nicht alle kritischen Anmerkungen des EuGH als zwingende Anforderungen (für Unionsrecht oder nationales Recht) zu verstehen, dazu seien sie zu allgemein. Der EuGH habe schlicht die Fehler der Richtlinie beschrieben und keine zwingenden Anforderungen festgelegt. Die Entscheidung des EuGH, dass die Vorratsdaten-RL ungültig ist, sei eine Folge des kumulativen Effekts von allem gewesen, was die Richtlinie nicht beinhaltet habe:
It is therefore our provisional view that the Court of Justice in Digital Rights Ireland was not laying down specific mandatory requirements of EU law but was simply identifying and describing protections that were entirely absent from the harmonised EU regime. The Court’s conclusion that the Data Retention Directive was unlawful was compelled by the cumulative effect of what was not in the Data Retention Directive.
Das betrifft zunächst die Beschränkung des Zugangs auf Fälle schwerwiegender Straftaten. Der Court of Appeal akzeptiert zwar, dass grundsätzlich die Rechtfertigung für den Datenzugang umso gewichtiger sein muss, je gewichtiger der Eingriff in Grundrechte ist, glaubt aber nicht, dass der EuGH vorgegeben habe, dass ein Zugang zu auf Vorrat gespeicherten Daten nur zum Zweck der Verhinderung, Aufklärung oder Verfolgung schwerer Straftaten zulässig sein sollte. Ähnlich sieht er das im Hinblick auf das Erfordernis vorheriger richterlicher oder sonst unabhängiger Genehmigung (zumal der EuGH dabei - in RNr 62 seines Urteils - weder auf Rechtsprechung verwiesen habe noch auf gegenläufige Argumente eingegangen sei). Auch dass Daten zwingend innerhalb der Union zu speichern seien, sei nicht als Mindestanforderung an nationale Rechtsvorschriften zu verstehen.

Anwendungsbereich des Unionsrechts
Interessant sind die Ausführungen zur Reichweite der Grundrechtecharta. Unstrittig sei, dass die Rechtsvorschriften zur Speicherung der Daten in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen und daher den Anforderungen des Art 15 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation entsprechen müssen. Das teilt auch der Court of Appeals, der sowohl Speicherverpflichtung als auch Speicherung im Anwendungsbereich des Unionsrechts sieht. Unklarer sei das beim Zugang zu den gespeicherten Daten: Der EuGH habe festgehalten, dass bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Systems der Vorratsdatenspeicherung die Regeln für den Zugang zu diesen Daten notwendigerweise mit zu berücksichtigen sind. Der EuGH habe dies aber im Zusammenhang mit der Prüfung einer EU-Richtlinie ausgesprochen, und es wäre "überraschend", hätte er damit beabsichtigt, zwingende Anforderungen für ein nationales Regelwerk festzulegen, das außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liege, außer insoweit, als es beiläufig für das System der Datenspeicherung relevant sei:
Nevertheless, the CJEU was here concerned with a Directive which established a regime for retention. Having regard to this context it would, in our view, be surprising if the CJEU had intended to lay down definitive mandatory requirements for an access regime which lies outside the scope of EU law save to the extent that it is incidentally relevant to the retention regime. [...] It seems to us more likely, therefore, that the CJEU was simply pointing to the failure of the Data Retention Directive to provide any safeguards in this regard.
Der EuGH, so meint der Court of Appeals daher, habe sich mit der Frage von zwingenden Anforderungen an nationale Regeln für den Zugang zu Vorratsdaten gar nicht befasst.

Ging der EuGH über die Anforderungen der EGMR-Rechtsprechung zu Art 8 EMRK hinaus?
Der Court of Appeal ist sich auch nicht sicher, ob der EuGH in seinem Urteil weiter gehen wollte als der EGMR in seiner Rechtsprechung zu Art 8 EMRK. Er bezieht sich dabei vor allem auf das Urteil Kennedy des EGMR, in dem dieser keine vorhergehende richterliche Genehmigung für den Zugang zu gespeicherten Daten (hier sogar zu Inhaltsdaten) verlangt hatte. Der EuGH habe dagegen in RNr 62 seines Urteils auffallend genau ("with a striking degree of particularity") darauf verwiesen, dass "der Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den auf Vorrat gespeicherten Daten keiner vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle [unterliegt], deren Entscheidung den Zugang zu den Daten und ihre Nutzung auf das zur Erreichung des verfolgten Ziels absolut Notwendige beschränken soll und im Anschluss an einen mit Gründen versehenen Antrag der genannten Behörden im Rahmen von Verfahren zur Verhütung, Feststellung oder Verfolgung von Straftaten ergeht." Wenn der EuGH damit - was der Court of Appeal nicht glaubt - weiter gehen wollte als der EGMR, so habe er dafür keine Gründe angegeben und auch die Rechtsprechung des EGMR nicht zitiert.

Vorlagefragen
Der Court of Appeal, der die Rechtsansicht des Erstgerichts demnach überwiegend nicht teilt, sieht sich veranlasst, ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten. Dies auch vor dem ausdrücklich angesprochenen Hintergrund, dass sechs nationale Gerichte, darunter fünf Höchstgerichte, im Gefolge des EuGH-Urteils zur Vorratsdaten-RL nationale Rechtsvorschriften aufgehoben haben (darunter natürlich auch der österreichische Verfassungsgerichtshof). Zudem sei der "true effect" des Vorratsdaten-Urteils des EuGH für die Gültigkeit jeder zukünftigen Regelung der Mitgliedstaaten in diesem Bereich von zentraler Bedeutung.

Der Court of Appeal formuliert die folgenden zwei Fragen, die er dem EuGH vorlegen möchte.
(1) Did the CJEU in Digital Rights Ireland intend to lay down mandatory requirements of EU law with which the national legislation of Member States must comply?
(2) Did the CJEU in Digital Rights Ireland intend to expand the effect of Articles 7 and/or 8, EU Charter beyond the effect of Article 8 as established in the jurisprudence of the ECtHR?
Zu den endgültigen Fragen werden, dem englischen Prozessrecht folgend, noch die Parteien gehört; die tatsächlich gestellten Fragen können also noch abweichen. Meines Erachtens wären die Fragen, so wie sie jetzt vorliegen, jedenfalls nicht geeignet, vom EuGH ohne großzügige Umdeutung (die der EuGH freilich oft vornimmt) beantwortet zu werden.

Der Court of Appeal wird ein beschleunigtes Verfahren beantragen und schlägt auch vor, die Rechtssache mit dem bereits anhängigen Vorabentscheidungsersuchen des Kammarrätten i Stockholm, das sich mit der Vereinbarkeit nationaler Vorratsdaten-Regelungen mit Art 15 Abs 1 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation befasst, zu verbinden.

Update 17.01.2016: Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 28.12.2015 beim EuGH eingelangt und zu C-698/15 Davis ua anhängig; die konkreten Vorlagefragen hat der EuGH noch nicht veröffentlicht (siehe zum Vorabentscheidungsersuchen auch den Beitrag auf EU Law Radar).

Update 17.03.2016: Die tatsächlichen Vorlagefragen wurden nun vom EuGH veröffentlicht. Sie lauten:
1. Legt das Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-293/12 und C-594/12, Digital Rights Ireland und Seitlinger u. a., ECLI:EU:C:2014:238 (im Folgenden: Digital Rights Ireland) (einschließlich insbesondere der Rn. 60 bis 62) verbindliche, für die nationale Regelung eines Mitgliedstaats über den Zugang zu gemäß den nationalen Rechtsvorschriften auf Vorrat gespeicherten Daten geltende Voraussetzungen für die Vereinbarkeit mit den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) fest? 
2. Erweitert das Urteil Digital Rights Ireland des Gerichtshofs den Anwendungsbereich von Art. 7 und/oder Art. 8 der Charta über den Anwendungsbereich von Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), wie er in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) festgestellt ist, hinaus?
Der EuGH hat die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens beschlossen (Beschluss vom 01.02.2016), am 12.04.2016 findet die Verhandlung vor dem EuGH statt.

Update 26.07.2016: zu den Schlussanträgen des Generalanwalts in dieser Rechtssache siehe im Blog hier,