Thursday, May 06, 2010

Kirchhof-Gutachten: Das Erlebnis der Illegalität und das Dunkel des tatbestandlich Bedeutungslosen

Gutachten deutscher Staatsrechtler muss man einfach mögen - das gilt auch für das von Paul Kirchhof im Auftrag von ARD, ZDF und D Radio erstellte Gutachten Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, das heute vorgelegt wurde.

Wo sonst würde etwa "das Rechtsunerhebliche ... im Dunkel des tatbestandlich Bedeutungslosen" (S. 53*) belassen oder ernstlich von einem "Bewohner einer in einem Funkloch gelegenen Almhütte" erwartet, er werde "unter Hinweis auf das Erfordernis der Realitätsnähe des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes einwenden, dass die gesetzliche Typisierung [seinen] Sachverhalt nicht träfe" (S. 61)? Wer sonst könnte von einem Privathaushalt als "eine[r] Gemeinschaft unterschiedlichen, sich in der Verschiedenheit der Empfangsgewohnheiten ausgleichenden Empfangs" (S. 10) schreiben oder davon, dass der freiheitliche Sozialstaat "außerdem nahelegt, dass das Rundfunkangebot von der Haushaltsgemeinschaft gemeinsam zur Lebensgestaltung auch der Kranken, der Altersgebrechlichen, der Arbeitslosen oder der sonst besonders schutzbedürftigen Haushaltsmitglieder genutzt wird" (S. 11)? Wer könnte Sätze schreiben wie:
  • "Die typisierende Vermutung der Empfangsfähigkeit verfehlt zunehmend die Rechtswirklichkeit" (S. 8)
  • "In diesem Abgabenschuldverhältnis begegnen sich der anstaltsbezogene Bedarfstatbestand und der nutzungsbezogene Vorteilstatbestand." (S. 60)
  • "Dieser normative Ausgangsbefund, das Rundfunkangebot wende sich an den Menschen, muss deshalb grundsätzlich auch im Menschen und nicht in den Empfangsgeräten tatbestandlich erfasst werden." (S. 9)
  • "Hier trägt das Gerät allenfalls schwach eine Nutzungsvermutung" (S. 7)
  • "Jenseits dieses Haushaltskerns der 'bürgerlichen Kleinfamilie' als 'familiales Grundmuster' bietet der Privathaushalt in der Vielfalt moderner Lebensformen stets Gemeinschaften, die auf ein Zusammenleben – auch in allen Formen des Rundfunkempfangs – angelegt sind." (S. 64)
Besonders hervorheben muss man auch die Sorge, die der Gutachter (geb. 1943) den jungen Menschen widmet, von denen er offenbar annimmt, dass sie sich der Rundfunkgebühr eher entziehen. Dazu schreibt er den schönen Satz
"Das bedeutet, dass auch eine große Zahl junger Menschen, die bei der Rundfunkabgabe erstmals zum Schuldner eines Dauerabgabenrechtsverhältnisses werden, dieses mit dem Erlebnis der Illegalität beginnen." (S 12)
Und wer "Dauerabgabenrechtsverhältnis" fehlerfrei schreiben kann, der findet wohl auch, dass es im Englischen viel zu wenige zusammengesetzte Wörter gibt: konsequenterweise schreibt Kirchhof daher auch "Personaldigitalassistants" zusammen (S. 7), so als wäre es ein von einem deutschen Staatsrechtler erfundener Begriff (aber in dieser Form ist er es wohl auch).

PS: falls es jemanden interessiert, was Kirchhof inhaltlich sagt, knapp zusammengefasst: weg mit der gerätebezogenen Abgabe, her mit einer Haushalts- und Betriebsstättenabgabe (was verfassungsrechtlich nicht nur erlaubt, sondern offenbar geradezu zwingend geboten sei); und irgendwie wär's auch netter, wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk ausschließlich gebührenfinanziert wäre, denn dann könnte man ihn wegen der fehlenden Werbeunterbrechung besser vom privaten Rundfunk unterscheiden (in den Worten des Meisters: "Würde der Gesetzgeber sich entscheiden, den öffentlichrechtlichen Rundfunk gänzlich [...] ohne Werbung und Sponsoring zu finanzieren, wäre die Identität der Rundfunkanstalten und des Rundfunkprogramms – ein Programmablauf ohne jegliche Werbeunterbrechung – in eindrucksvoller Weise hervorgehoben." S. 52).

*) Die Seitenangaben beziehen sich auf die auch hier verfügbare Studie; die Hervorhebungen stammen von mir, in den Zitaten vorkommende Fußnoten habe ich ausgelassen. Siehe zum Gutachten auch den Beitrag auf Telemedicus [update 11.5.2010: mittlerweile ergänzt durch eine sehr übersichtliche Detaildarstellung und eine Zusammenstellung der Reaktionen auf das Gutachten].

1 comment :

Anonymous said...

Er schreibt für meine Empfindung nicht wie ein Staatsrechtler, sondern wie ein Rosinenausscheidungsberechtigter.

Das Problem bei dieser Neugestaltung des Beitrags ist aber doch erstens, wie ein Haushalt definiert wird (und wie und wo die Daten erfasst werden, wer zu dem Haushalt gehört), und zweitens mit welchem Recht Arbeitnehmer doppelt belastet werden, einmal zuhause und einmal am Arbeitsplatz, denn der Arbeitgeber wird faktisch das Einkommen seiner Mitarbeiter reduzieren, um den Betriebsbeitrag zu finanzieren.