Tuesday, July 19, 2016

EuGH-Generalanwalt: Vorratsdatenspeicherung kann - unter strengen Voraussetzungen - mit Unionsrecht vereinbar sein

Generalanwalt Saugmandsgaard Øe hat heute die Schlussanträge in den verbundenen Verfahren C-203/15 Tele2 Sverige AB und C-698/15 David Davis Tom Watson ua erstattet. Dabei geht es im Kern um die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften zur Vorratsdatenspeicherung mit Art 15 Abs 1 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (RL 2002/58) bzw. - in der eher ungewöhnlichen Fragestellung des Court of Appeal (England & Wales) (siehe im Blog dazu hier) - um die Auslegung des Urteils in den verbundenen Rechtssachen C-293/12 und C-594/12, Digital Rights Ireland und Seitlinger u. a. (dazu im Blog insbesondere hier und hier).

Der Generalanwalt kommt in seinen Schlussanträgen (siehe auch die Pressemitteilung des EuGH) zum Ergebnis, dass eine generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung von Daten, die ein Mitgliedstaat den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste auferlegt, mit dem Unionsrecht vereinbar sein kann, dies allerdings nur unter strengen Voraussetzungen, deren Vorliegen vom nationalen Gericht zu prüfen sind.

Anwendungsbereich des Unionsrechts
Vorsetzung der Prüfung nach dem Unionsrecht ist freilich, dass die nationalen Regelungen überhaupt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts (konkret der RL 2002/58 fallen). Die RL sieht in ihrem Art 1 Abs 3 vor, dass sie nicht für Tätigkeiten gilt, "die nicht in den Anwendungsbereich des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft fallen, beispielsweise Tätigkeiten gemäß den Titeln V und VI des Vertrags über die Europäische Union, und auf keinen Fall für Tätigkeiten betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates (einschließlich seines wirtschaftlichen Wohls, wenn die Tätigkeit die Sicherheit des Staates berührt) und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich."

Daraus wurde gelegentlich - insbesondere natürlich von nationalen Regierungen - abgeleitet, dass Vorratsdaten-Regelungen, die zu Zwecken der öffentlichen Sicherheit eingeführt werden, gar nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen. Diese Ansicht teilt der Generalanwalt nicht; auch unter Bezugnahme auf das erste Vorratsdaten-Urteil Irland/Parlament und Rat (im Blog dazu hier) hält er fest, dass Bestimmungen nationalen Rechts, die eine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung "ähnlich der in der Richtlinie 2006/24 vorgesehenen" einführen, nicht in den strafrechtlichen Bereich fallen. Eine "generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung [wird] nicht von der Ausnahmeregelung des Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2002/58 erfasst" und fällt daher in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie (RNr 97 der Schlussanträge).

Anwendbarkeit der Grundrechtecharta
Da mit der Einführung einer Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung von der Befugnis in Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 Gebrauch gemacht wird, fällt sie auch in den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta (die Charta gilt für die Mitgliedstaaten "bei der Durchführung des Rechts der Union"); daran ändert es auch nichts, wenn die nationalen Regelungen, die den Zugang zu den gespeicherten Daten durch Polizei- oder Justizbehörden regeln, nicht in den Anwendungsbereich der RL fallen und damit auch nicht das Unionsrecht durchführen (RNr 124). Die Problematik der Vorratsspeicherung kann aber von der Frage des Zugangs zu den Daten nicht vollständig getrennt werden. Der Generalanwalt hält fest, dass "die Bestimmungen über den Zugang von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung der Frage [sind], ob die Bestimmungen zur Einführung einer generellen Verpflichtung zur Vorratsspeicherung [...] mit der Charta vereinbar sind. Die Bestimmungen zur Regelung des Zugangs sind insbesondere bei der Beurteilung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer solchen Verpflichtung zu berücksichtigen" (RNr 125).

Generelle Regelung mit Art 15 Abs 1 der RL 2002/15 nicht unvereinbar
Der Generalanwalt bezieht sich in seinen Überlegungen zu Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 vor allem auf den Erwägungsgrund 11 zur RL; demnach hat die RL "keine Auswirkungen auf das bestehende Gleichgewicht zwischen dem Recht des Einzelnen auf Privatsphäre und der Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Maßnahmen nach Artikel 15 Absatz 1 dieser Richtlinie zu ergreifen, die für den Schutz der öffentlichen Sicherheit, für die Landesverteidigung, für die Sicherheit des Staates (einschließlich des wirtschaftlichen Wohls des Staates, soweit die Tätigkeiten die Sicherheit des Staates berühren) und für die Durchsetzung strafrechtlicher Bestimmungen erforderlich sind." Er leitet daraus ab, dass der Unionsgesetzgeber das Recht der Mitgliedstaaten auf Erlass solcher Maßnahmen nicht antasten, sondern bestimmten Voraussetzungen unterwerfen wollte, die sich vor allem auf den verfolgten Zweck und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen beziehen. "Anders gesagt, eine generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung ist mit der durch diese Richtlinie geschaffenen Regelung nicht unvereinbar, sofern sie bestimmte Voraussetzungen erfüllt." (RNr 108). Art 15 Abs 1 sei auch keine Ausnahme, die eng auszulegen sei.

Eingriff in die Grundrechte nach Art 7 und 8 Grundrechtecharta
Die Verpflichtung zur Vorratsspeicherung von Daten stellt einen schweren Eingriff in das in Art 7 GRC verankerte Recht auf Achtung der Privatsphäre und das durch 8 GRC geschützte Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten dar (der Generalanwalt verweist dazu auf die RNr 32 bis 37 des Urteils im Fall Digital Rights Ireland). Damit ist zu prüfen, ob die Eingriffsschranken des Art 52 Abs 1 der Grundrechtecharta eingehalten werden; zusätzlich muss der Eingriff auch die in Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 gesetzten Voraussetzungen erfüllen. Damit bestehen sechs Voraussetzungen (RNr 132):
– Die Vorratsspeicherungspflicht muss eine gesetzliche Grundlage haben
– sie muss den Wesensgehalt der in der Charta verankerten Rechte wahren;
– sie muss einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entsprechen;
– sie muss zur Verfolgung dieses Ziels geeignet sein;
– sie muss für die Verfolgung des genannten Ziels erforderlich sein, und
– sie muss in einer demokratischen Gesellschaft in angemessenem Verhältnis zur Verfolgung dieses Ziels stehen.
- Gesetzliche Grundlage
Zur Frage der gesetzlichen Grundlage hat der EuGH im Fall Digital Rights Ireland nicht Stellung genommen. Der Generalwalt verweist in diesem Zusammenhang auf RNr 81 des Urteils WebMindLicenses sowie die Rechtsprechung des EGMR; dem Ausdruck "gesetzlich vorgesehen" in Art 52 Abs 1 GRC muss nach Ansicht des Generalanwalts dieselbe Bedeutung beigemessen werden, wie sie dieser Ausdruck im Zusammenhang mit der EMRK hat.

Die gesetzlichen Grundlagen ("Rechtsvorschriften" im Sinne des Art 15 Abs 1 RL 2002/58) müssen zugänglich und vorhersehbar sein und einen geeigneten Schutz gegen Willkür bieten. Sie müssen daher für die nationalen Behörden verbindlich sein; unverbindliche Verwaltungsvorschriften oder interne Leitlinien reichen nicht aus. Der Begriff der "Rechtsvorschriften" nach Art 15 Abs 1 Satz 1 der RL 2002/58 schließt es nach Ansicht des Generalanwalts auch aus, "dass eine innerstaatliche, und sei es ständige, Rechtsprechung eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Durchführung dieser Bestimmung sein kann. Ich weise darauf hin, dass die genannte Bestimmung insoweit über die sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergebenden Anforderungen hinausgeht" (RNr 151).

- Wesensgehalt der Grundrechte
Dazu verweist der Generalanwalt auf das Urteil im Fall Digital Rights Ireland, in dem der EuGH festgestellt hat, dass die RL über die Vorratsspeicherung von Daten den Wesensgehalt des Rechts auf Achtung des Privatlebens und der übrigen in Art. 7 der Charta verankerten Rechte nicht antastet, da sie es nicht gestattet, vom Inhalt elektronischer Kommunikation als solchem Kenntnis zu erlangen. Das ist auch auf die nationalen Regelungen der Ausgangsverfahren zu übertragen, die auch keinen Zugriff auf Inhalte der Kommunikation gestatten.

- dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung: Bekämpfung schwerer Kriminalität (nicht für "einfache" Kriminalität)
Auch hier sind die Wertungen aus dem Urteil im Fall Digital Rights Ireland übertragbar, wo das Ziel der Bekämpfung schwerer Kriminalität als solche legitime Zielsetzung anerkannt wurde. Der Generalanwalt prüft darüber hinausgehend, ob die Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung auch durch eine andere Zielsetzung gerechtfertigt werden kann. Entgegen der vom UK vertretenen Auffassung sieht der Generalanwalt allerdings in der Bekämpfung "einfacher" (im gegensatz zu "schwerer") Kriminalität keine mögliche Rechtfertigung: Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit in einer demokratischen Gesellschaft schließt es nach Ansicht des Generalanwalts aus, "dass die Bekämpfung einfacher Kriminalität oder der ordnungsgemäße Ablauf von nicht strafrechtlichen Verfahren eine Rechtfertigung für eine generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung sein kann. Die erheblichen Gefahren, die von einer solchen Verpflichtung ausgehen, stehen nämlich außer Verhältnis zu den Vorteilen, die sie bei der Bekämpfung leichter Kriminalität oder im Kontext nicht strafrechtlicher Verfahren verschaffen würde" (RNr 172).

Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung sind daher im Licht des Ziels der Bekämpfung schwerer Kriminalität zu prüfen.

- Geeignetheit - "zur Entschlüsselung der Vergangenheit"
Wiederum unter Berufung auf das Urteil im Fall Digital Rights Ireland hält der Generalanwalt fest, dass die Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung schwerer Kriminalität beiträgt. Der Generalanwalt greift dabei ausdrücklich Vorbringen der französischen Regierung auf, die zu Recht geltend gemacht habe, dass die Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung in gewissem Umfang den Strafverfolgungsbehörden ermögliche, die "Vergangenheit zu entschlüsseln". Die Ausführungen der französischen Regierung im Lichte der jüngeren Terroranschläge haben den Generalanwalt nicht unbeeindruckt lassen:
179. Eine gezielte Überwachungsmaßnahme ist auf Personen gerichtet, bei denen zuvor festgestellt wurde, dass sie in einem auch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit schweren Straftaten stehen könnten. [...]
180. Dagegen erfasst eine generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung alle Kommunikationsvorgänge sämtlicher Nutzer, ohne dass irgendein Bezug zu einer schweren Straftat erforderlich ist. [...] Insofern verleiht diese Verpflichtung den Strafverfolgungsbehörden die begrenzte Fähigkeit zur Entschlüsselung der Vergangenheit, indem sie ihnen Zugang zu den Kommunikationsvorgängen gewährt, die diese Personen vor ihrer Identifizierung abwickeln.
181. Mit anderen Worten, der Nutzen, den eine generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung bei der Bekämpfung schwerer Kriminalität haben kann, liegt in der begrenzten Fähigkeit, die Vergangenheit mit Hilfe von Daten zu entschlüsseln, die die Kommunikationsvorgänge einer Person aus einer Zeit nachzeichnen, in der diese noch nicht im Verdacht stand, zu einer schweren Straftat in Beziehung zu stehen.
182. Bei der Vorlage des Richtlinienvorschlags, der zum Erlass der Richtlinie 2006/24 geführt hat, machte die Kommission diesen Nutzen an mehreren konkreten Beispielen deutlich, in denen insbesondere wegen Terrorismus, Mord, Entführung und Kinderpornografie ermittelt worden war.
183. Mehrere ähnliche Beispiele sind dem Gerichtshof im Rahmen der vorliegenden Verfahren vorgetragen worden, insbesondere von der französischen Regierung, die auf die positive Verpflichtung der Mitgliedstaaten hingewiesen hat, die Sicherheit der sich in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet aufhaltenden Personen zu gewährleisten. Die französische Regierung ist der Auffassung, dass bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit der Zerschlagung von Banden, die die Ausreise von in Frankreich ansässigen Personen in irakische und syrische Konfliktregionen organisierten, der Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten bei der Identifizierung von Personen, die diese Ausreise unterstützt hätten, eine entscheidende Rolle spiele. Der Zugang zu den Kommunikationsdaten der an den jüngsten Terroranschlägen von Januar und November 2015 in Frankreich beteiligten Personen sei für die Ermittler bei der Aufdeckung der Komplizen dieser Anschläge äußerst hilfreich gewesen. [...]
184. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass eine generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung geeignet ist, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität beizutragen. [Fußnoten weggelassen]
- Erforderlichkeit
Die wirklich spannende Frage ist natürlich, inwieweit die Vorratsdatenspeicherung auch als "erforderlich" zu beurteilen ist. Erforderlich ist eine Maßnahme nur, wenn es keine andere Maßnahme gibt, die genauso geeignet, jedoch weniger belastend ist. Klar ist, dass die Bestimmungen der Grundrechtecharta gleich auszulegen sind, egal ob die betreffende Regelung auf Unionsebene oder auf innerstaatlicher Ebene aufgestellt wurde: "Die vom Gerichtshof im DRI-Urteil herangezogenen Kriterien sind daher für die Beurteilung der in den vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden innerstaatlichen Regelungen relevant, wie insbesondere die dänische und die irische Regierung sowie die Kommission geltend gemacht haben." (RNr 191; siehe dazu schon unmittelbar nach dem DRI-Urteil im Blog hier).

-- absolute Notwendigkeit?
Der Generalanwalt kommt zum Ergebnis, dass eine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung nicht über das absolut Notwendige hinausgeht, "sofern mit ihr bestimmte Garantien einhergehen, die den Zugang zu den Daten, die Dauer der Vorratsspeicherung und den Schutz und die Sicherheit der Daten betreffen."

Er verweist dazu wieder einmal auf das DRI-Urteil, in dem der EuGH erst am Ende seiner Prüfung der in der RL über die Vorratsspeicherung von Daten vorgesehenen Regelung - und nach der Feststellung, dass bestimmte Garantien fehlen - zu Ergebnis kam, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass der RL die Grenzen überschritten hat, die er zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 der Charta einhalten musste. Die in der RL über die Vorratsspeicherung von Daten vorgesehene generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung sei somit als solche nicht über das absolut Notwendige hinausgegangen, wohl aber wegen des Zusammenwirkens der generellen Vorratsspeicherung und des Fehlens von Garantien, die die Verletzung der in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Rechte auf das absolut Notwendige beschränken (RNr 200-202).

Das Erfordernis des "absolut Notwendigen" verlangt die Prüfung, ob andere Maßnahmen bei der Bekämpfung schwerer Kriminalität genauso wirksam sein könnten wie die generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung, dabei jedoch die in der Richtlinie 2002/58 und in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Rechte weniger beeinträchtigen würden. Dies, so der Generalanwalt, ist im spezifischen Kontext der jeweiligen innerstaatlichen Regelung zu beurteilen: "Zum einen verlangt diese Beurteilung, dass die Wirksamkeit der genannten Verpflichtung mit der Wirksamkeit jeder anderen denkbaren Maßnahme im innerstaatlichen Zusammenhang verglichen und dabei berücksichtigt wird, dass die genannte Verpflichtung den zuständigen Behörden die begrenzte Fähigkeit verleiht, anhand der auf Vorrat gespeicherten Daten die Vergangenheit zu entschlüsseln" (RNr 208).

Der Generalanwalt legt sich dann ganz bewusst nicht fest, sondern schiebt die Beurteilung auf die nationalen Gerichte:
209. In Anbetracht des Erfordernisses des absolut Notwendigen ist es unerlässlich, dass die Gerichte sich nicht mit der Prüfung des bloßen Nutzens einer generellen Verpflichtung zur Vorratsspeicherung begnügen, sondern genau untersuchen, ob eine andere Maßnahme oder eine Kombination von Maßnahmen, insbesondere aber eine gezielte Vorratsspeicherungspflicht, mit der andere Ermittlungsinstrumente einhergehen, bei der Bekämpfung schwerer Kriminalität nicht dieselbe Wirksamkeit aufweisen. Ich weise insoweit darauf hin, dass eine Reihe von Studien, die dem Gerichtshof vorgelegt worden sind, die Erforderlichkeit dieser Art von Verpflichtung zur Bekämpfung schwerer Kriminalität in Frage stellen.
210. Sollten andere Maßnahmen bei der Bekämpfung schwerer Kriminalität genauso wirksam sein können, so haben zum anderen die vorlegenden Gerichte [...] überdies zu prüfen, ob diese Maßnahmen die in Rede stehenden Grundrechte weniger verletzen als eine generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung.
211. Unter Berücksichtigung von Rn. 59 des DRI-Urteils werden die vorlegenden Gerichte insbesondere zu prüfen haben, ob der materielle Umfang der Verpflichtung zur Vorratsspeicherung beschränkt werden kann, unter gleichzeitiger Wahrung der Wirksamkeit dieser Maßnahme bei der Bekämpfung schwerer Kriminalität. Diese Verpflichtung kann nämlich je nach den von ihr erfassten Nutzern, geografischen Gebieten und Kommunikationsmitteln einen mehr oder weniger weiten materiellen Umfang haben.
212. Meines Erachtens sollten, sofern die Technologie es zulässt, von der Vorratsspeicherungspflicht vor allem die Daten ausgenommen werden, die im Hinblick auf die in den vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden Grundrechte besonders sensibel sind, wozu die unter das Berufsgeheimnis fallenden Daten oder auch die Daten gehören, anhand deren die Informationsquellen von Journalisten identifiziert werden können.
213. Es muss jedoch bedacht werden, dass eine erhebliche Beschränkung des Umfangs der generellen Verpflichtung zur Vorratsspeicherung den Nutzen, den eine solche Regelung im Kampf gegen schwere Kriminalität hat, beträchtlich schmälern könnte. Zum einen haben mehrere Regierungen betont, dass es schwierig, wenn nicht gar unmöglich sei, im Voraus die Daten festzulegen, die mit einer schweren Straftat in Beziehung stehen könnten. Eine solche Beschränkung kann daher die Vorratsspeicherung von Daten ausschließen, die sich für die Bekämpfung schwerer Kriminalität als relevant erweisen könnten.
214. Zum anderen ist die schwere Kriminalität, wie die estnische Regierung ausgeführt hat, ein dynamisches Phänomen, das sich den Ermittlungsinstrumenten der Strafverfolgungsbehörden anpassen kann. Die Beschränkung auf ein bestimmtes geografisches Gebiet oder ein bestimmtes Kommunikationsmittel liefe daher Gefahr, eine Verlagerung der mit schwerer Kriminalität im Zusammenhang stehenden Aktivitäten in ein geografisches Gebiet und/oder auf ein Kommunikationsmittel herbeizuführen, die von dieser Regelung nicht erfasst werden.
215. Da diese Beurteilung eine komplexe Bewertung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden innerstaatlichen Regelungen verlangt, ist sie meines Erachtens von den nationalen Gerichten vorzunehmen [...].
-- Sind die vom EuGH in RNr 60 bis 68 des DRI-Urteils angeführten Garantien zwingend?
Der EuGH hat in seinem DRI-Urteil mehrere Kriterien angesprochen, die bei der Vorratsspeicherung nach der RL nicht erfüllt wurden, was letztlich zur Ungültigerklärung der RL führte. Strittig ist nun, ob diese Kriterien zur Gänze erfüllt sein müssen, oder ob eine Gesamtbeurteilung nach der Art eines "beweglichen Systems" erfolgen kann. Die deutsche Regierung verwendete dazu auch das Bild von "kommunizierenden Röhren", nach dem "ein flexiblerer Ansatz in Bezug auf einen der drei vom Gerichtshof bezeichneten Aspekte (z. B. Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten) durch einen strikteren Ansatz bezüglich der beiden anderen Aspekte (Dauer der Vorratsspeicherung sowie Sicherheit und Schutz der Daten) ausgeglichen werden könne."

Der Generalanwalt kann dieser These der „kommunizierenden Röhren“ nichts abgewinnen und meint, dass "alle vom Gerichtshof in den Rn. 60 bis 68 des DRI-Urteils aufgeführten Garantien als zwingend anzusehen sind." Zur Wahrung der praktischen Wirksamkeit der vom EuGH in den RNr 60 bis 68 des DRI-Urteils angeführten Garantien ist nach Ansicht des Generalanwalts daher "jede einzelne dieser Garantien als zwingend anzusehen" (RNr 226).

Der Generalanwalt meint auch, dass die Umsetzung dieser Garantien durch die Mitgliedstaaten, die eine generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung einführen wollen, "keine größeren praktischen Schwierigkeiten" bereite. Im Einzelnen geht es um folgende Punkte
  • Der Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten und deren spätere Nutzung ist strikt auf Zwecke der Verhütung und Feststellung genau abgegrenzter schwerer Straftaten oder der sie betreffenden Strafverfolgung zu beschränken (beides ist in den den Ausgangsverfahren zugrunde liegenden schwedischen bzw englischen Rechtsvorschriften nicht gegeben)
  • Der Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten muss einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterliegen, deren Entscheidung den Zugang zu den Daten und ihre Nutzung auf das zur Erreichung des verfolgten Ziels absolut Notwendige beschränken soll. Diese vorherige Kontrolle muss ferner im Anschluss an einen mit Gründen versehenen Antrag der genannten Behörden im Rahmen von Verfahren zur Verhütung, Feststellung oder Verfolgung von Straftaten stattfinden (auch dies ist weder in Schweden noch dem UK der Fall). Der Generalwalt sieht ausdrücklich "keinen Grund, dieses unbestreitbar aus dem Wortlaut von Rn. 62 des DRI-Urteils folgende Erfordernis einer vorherigen Kontrolle durch eine unabhängige Stelle abzuschwächen" (RNr 234), räumt freilich etwas später ein, dass in Fällen äußerster Dringlichkeit eine nachträgliche Kontrolle innerhalb kürzester Zeit möglich sein soll (RNr 237). Die unabhängige Kontrolle als Voraussetzung für den Zugang zu den Daten ist umso notwendiger, wenn es technisch schwierig ist, besonders sensible Daten (wie der unter das Berufsgeheimnis fallenden Daten oder Daten, anhand derer die Informationsquellen von Journalisten identifiziert werden können) bereits bei der Speicherung auszuschließen.
  • Speicherung der Daten im Unionsgebiet (auch das ist nach dem Parteienvorbringen in Schweden und im UK nicht gewährleistet); hier will der Generalanwalt, dass bei nationalen Regelungen die Vorratsspeicherung der Daten im nationalen Staatsgebiet vorzusehen ist, um die Überwachung durch die Behörde sicherstellen zu können.
  • Differenzierte Speicherdauer: die vorlegenden Gerichte müssen hinsichtlich der Dauer der Vorratsspeicherung die vom EuGH in den RNr 63 und 64 des DRI-Urteils aufgestellten Kriterien anwenden. "Zum einen müssen diese Gerichte prüfen, ob die auf Vorrat gespeicherten Daten nach Maßgabe ihres Nutzens unterschieden werden können und, gegebenenfalls, ob die Dauer der Vorratsspeicherung nach Maßgabe dieses Kriteriums angepasst wurde. Zum anderen haben sie zu prüfen, ob die Dauer der Vorratsspeicherung auf objektiven Kriterien beruht, die gewährleisten können, dass sie auf das absolut Notwendige beschränkt wird."
- Verhältnismäßigkeit
Nach der Prüfung der Erforderlichkeit müssen die vorlegenden Gerichte noch prüfen, ob die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung "in einer demokratischen Gesellschaft unter Berücksichtigung des Ziels der Bekämpfung schwerer Kriminalität verhältnismäßig" sind. Hier wird die Sache philosophisch:
248. Im Unterschied zu den Erfordernissen der Geeignetheit und der Erforderlichkeit der betreffenden Maßnahme, die eine Bewertung der Wirksamkeit dieser Maßnahme unter Berücksichtigung des verfolgten Ziels beinhalten, umfasst das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne eine Abwägung der Vorteile, die aus dieser Maßnahme unter Berücksichtigung des verfolgten legitimen Ziels resultieren, gegen die Nachteile, die sich aus ihr unter Berücksichtigung der in einer demokratischen Gesellschaft gewährten Grundrechte ergeben. Dieses Erfordernis ist somit der Ausgangspunkt für eine Debatte über die Werte, die in einer demokratischen Gesellschaft gelten sollen, und letztlich über die Art von Gesellschaft, in der wir leben wollen.[...]
250. Gemäß der [...] Rechtsprechung sind die Vor- und Nachteile einer generellen Verpflichtung zur Vorratsspeicherung gegeneinander abzuwägen. Diese Vorteile und diese Nachteile stehen in engem Zusammenhang mit dem wesentlichen Merkmal einer solchen Verpflichtung – gewissermaßen als deren helle und dunkle Seite –, das darin besteht, dass sie alle Kommunikationsvorgänge sämtlicher Nutzer erfasst, ohne dass irgendein Bezug zu einer schweren Straftat erforderlich ist. [Hervorhebung hinzugefügt]
In der Folge verweist der Generalanwalt unter anderem auf die Nachteile, die sich etwa daraus ergeben, dass die Kommunikationsdaten die Identifizierung der Personen ermöglichen würden, die an einer öffentlichen Demonstration gegen die Regierung teilnehmen. Ausdrücklich betont der Generalanwalt, dass die Gefahren, die mit dem Zugang zu den Kommunikationsdaten ("Metadaten") verbunden sind, gleich groß oder auch größer sein können als die Gefahren, die sich aus dem Zugang zum Inhalt dieser Kommunikationsvorgänge ergeben (RNr 259) und dass die Gefahren eines missbräuchlichen oder unrechtmäßigen Zugangs zu den auf Vorrat gespeicherten Daten keineswegs theoretisch sind (RNr 260).

Letztlich ist es dann aber Aufgabe der vorlegenden Gerichte, zu beurteilen, ob die Nachteile, die die in den Ausgangsverfahren fragliche generelle Verpflichtung zur Vorratsspeicherung verursacht, in einer demokratischen Gesellschaft nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen. Dabei haben die vorlegenden Gerichte die Vorteile und Nachteile gegeneinander abzuwägen, die mit der genannten Verpflichtung verbunden sind, nämlich
– einerseits die Vorteile, die mit der Verleihung einer begrenzten Fähigkeit zur Entschlüsselung der Vergangenheit an die für die Bekämpfung schwerer Kriminalität zuständigen Behörden verbunden sind, und
– andererseits die schwerwiegenden Gefahren, die sich in einer demokratischen Gesellschaft aus der Fähigkeit, eine Kartografie des Privatlebens einer Person zu erstellen, und aus der Fähigkeit, eine ganze Bevölkerung zu katalogisieren, ergeben.
Conclusio
Auch wenn der Generalanwalt das nicht ausdrücklich sagt: schon angesichts des Umstandes, dass sowohl die Rechtsvorschriften im UK als auch jene in Schweden den Zugriff auf Vorratsdaten auch für Zwecke der Bekämpfung "einfacher" Kriminalität zulassen, können diese Regelungen den Test anhand der hier dargelegten Kriterien wohl nicht bestehen. Mit meiner ursprünglichen Reaktion auf das DRI-Urteil (hier: "jede nationale Vorratsdatenspeicherung muss zumindest jene Anforderungen erfüllen, die der EuGH der Prüfung der VDS-RL zugrunde gelegt hat.") bin ich damit, wenn man nach den heutigen Schlussanträgen geht, nicht so falsch gelegen.

Update 26.07.2016: siehe zu den Schlussanträgen auch Lorna Woods auf EU Law Analysis, Vanessa Franssen auf European Law Blog und Andrew Murray auf Verfassungsblog.
Update 10.08.2016: siehe dazu auch den Beitrag von Nora Ni Loideain.

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PS: dass die Fragestellung des Court of Appeal im Hinblick auf die Auslegung des DRI-Urteils etwas merkwürdig war (im Blog dazu schon hier), sieht auch der Generalanwalt so und schlägt dem EuGH dementsprechend vor, die zweite Vorlagefrage als unzulässig zurückzuweisen (RNr 73-83).

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PPS: Eine gewisse Ironie liegt übrigens darin, dass einer der Kläger im Ausgangsverfahren zum Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal, David Davis, mittlerweile zum Minister für den Austritt des UK aus der EU geworden ist (offiziell: "Secretary of State for Exiting the European Union") - in diesem Verfahren aber berief er sich auf Unionsrecht, insbesondere auch auf die Grundrechtecharta der Europäischen Union, um ein nationales, vom britischen Parlament beschlossenes Gesetz auszuhebeln. Inzwischen hat er sich aus dem Ausgangsverfahren zurückgezogen), der EuGH hat die Fall-Bezeichnung schon von David Davis ua auf Tom Watson ua geändert.

Tuesday, July 12, 2016

Kameras im Gerichtssaal: der Verfassungsgerichtshof geht neue Wege

Ein neues Bild: TV-Mikros auf dem Richtertisch
(Screenshot von der ORF-Live-Übertragung der Verkündung)
Der Verfassungsgerichtshof geht oft neue Wege: er erfindet erkennt bisher in Österreich unbekannte (Grund-)Rechte - zuletzt etwa das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (dazu im Blog hier) - oder entwickelt kreativ seine Zuständigkeit weiter (beispielsweise durch Inanspruchnahme der Kompetenz zur Entscheidung über die Staatshaftung oder durch Erweiterung seines Prüfungsmaßstabs durch die Grundrechtecharta der EU) - Rechtsfortbildung ist eine wesentliche Funktion eines Verfassungsgerichts.

In seinem Erkenntnis vom 01.07.2016 zur Anfechtung des zweiten Wahlgangs der Bundespräsidentenwahl (bislang nur mündlich verkündet, noch nicht schriftlich ausgefertigt; siehe die Pressemitteilung; update 13.07.2016: nun gibt es auch die schriftliche Ausfertigung) ist der Verfassungsgerichtshof jedoch - jedenfalls dem Grundsatz nach (Aufhebung einer Wahl, wenn eine Rechtswidrigkeit im Wahlvorgang auf das Ergebnis Einfluss gehabt haben könnte) - nicht von seiner ständigen Rechtsprechung abgegangen (eine interessante Fortentwicklung sehe ich allerdings darin, dass die Weitergabe von Teilergebnissen aus den bereits ausgezählten Wahlsprengeln durch Wahlbehörden als Rechtswidrigkeit beurteilt wurde, die den "Grundsatz der Freiheit der Wahl" beeinträchtigt - diesbezüglich bin ich auf die nähere Begründung in der schriftlichen Ausfertigung, die in dieser Woche zu erwarten ist, gespannt).

Wirklich neu bei diesem Erkenntnis war allerdings die Art der Information der Öffentlichkeit: der Verfassungsgerichtshof hat bei der Verkündung der Entscheidung auch die Live-TV-Übertragung zugelassen. Das ist zwar nicht Teil der vom Gerichtshof getroffenen Entscheidung (sondern Angelegenheit der Sitzungspolizei) und wird daher auch nicht näher begründet. Höchst bemerkenswert ist es, weil der Verfassungsgerichtshof mit der Zulassung von TV-, Hörfunk- und Fotoaufnahmen - wie auch der Live-Übertragung - von einer Auslegung des § 22 Mediengesetz abgeht, die bislang einhellige Meinung in der juristischen Literatur und Praxis der Gerichte war.*)

Ob TV-Aufnahmen oder Übertragungen aus dem Gerichtssaal zulässig sein sollen, ist eine seit langem immer wieder diskutierte rechtspolitische Frage. Dabei stehen sich verschiedene Interessen gegenüber: auf der einen Seite vor allem der Persönlichkeitsschutz der Verfahrensbeteiligten und der Schutz des gerichtlichen Verfahrens an sich, auf der anderen Seite das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, dem die mediale Berichterstattung dient.

Der österreichische Gesetzgeber hat sich bereits vor 35 Jahren im Mediengesetz dafür entschieden, diese Abwägung nicht den einzelnen Richter_innen zu überlassen, sondern eine klare und allgemeine Regelung zu treffen, die für alle Gerichte (und damit auch für den Verfassungsgerichtshof, siehe ausdrücklich den Ausschussbericht 439 BlgNR 25. GP 10) gilt: TV-Aufnahmen von Gerichtsverhandlungen sind - ausnahmslos - unzulässig. Es wird nach dem Gesetz auch nicht darauf abgestellt, ob im Einzelfall Verfahrensbeteiligte oder der Verfahrensablauf an sich zu schützen sind oder ob etwa ein besonderes Informationsinteresse der Öffentlichkeit besteht. Die Bedenken wegen der nachteiligen Auswirkungen, so heißt es in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (2 Blg 15. GP, 36), können "nur durch ein absolutes Verbot solcher Übertragungen ausgeräumt werden."

§ 22 Mediengesetz ("Verbot von Fernseh-, Hörfunk-, Film- und Fotoaufnahmen") lautet:
Fernseh- und Hörfunkaufnahmen und -übertragungen sowie Film- und Fotoaufnahmen von Verhandlungen der Gerichte sind unzulässig.
Die rechtspolitische Frage wurde damit durch den Gesetzgeber eindeutig entschieden. Dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit soll durch die Möglichkeit der Teilnahme von Medienvertreter_innen an der Verhandlung ausreichend gedient sein; die Berichterstattung in den audiovisuellen Medien kann auch durch Bild- und Tonaufnahmen, die vor und nach der Verhandlung aufgenommen werden, ergänzt werden. In der Verhandlung aber sind keine Kameras zuzulassen.

Das Verbot des § 22 MedienG richtet sich vor allem an den Richter/die Richterin, der/die die Verhandlung leitet, aber auch an die Medienmitarbeiter_innen und sonstige Verfahrensbeobachter_innen, die keine Aufnahmen machen dürfen, selbst wenn es vom Gericht erlaubt würde. "Allen an der Verhandlung Beteiligten [...] - und zwar auch dem Vorsitzenden selbst - ist es nicht gestattet, Ausnahmen zuzulassen", schreibt etwa Hanusch (Kommentar zum Mediengesetz, Rz 1 zu § 22).

Was ist unter einer "Verhandlung" im Sinne des § 22 MedienG zu verstehen?
Wenn nun der Verfassungsgerichtshof bei der Verkündung erstmals TV-Aufnahmen zugelassen hat, kann dies also nur an einer geänderten Auslegung des in § 22 MedienG verwendeten Begriffs der "Verhandlungen" liegen.

In der ordentlichen Justiz wurde § 22 MedienG bisher einhellig so verstanden, dass Aufnahmen (und natürlich auch Live-Übertragungen) von der gesamten Verhandlung, einschließlich der Verkündung der Entscheidung, unzulässig sind.

Das sieht auch auch die Lehre so, und zwar - für die rechtswissenschaftliche Lehre durchaus überraschend - ausnahmslos: Berka (in Berka/Heindl/Höhne/Noll, Praxiskommentar MedienG, 3. Auflage, Rz 12) schreibt etwa, dass "auch Aufnahmen oder Übertragungen von der Urteilsverkündung" unzulässig sind; Rami (Wiener Kommentar zum StGB, Rz 5 zu § 22 MedienG) verweist darauf, dass § 22 MedienG für die Verhandlungen der Gerichte einen einheitlichen Begriff verwendet und sich dieser daher nicht mit den gleichlautenden Begriffen in StPO und ZPO deckt [und damit - meine Ergänzung - wohl auch nicht mit dem Verhandlungsbegriff im VfGG]; die "Verhandlung" im Sinne des § 22 MedienG, so Rami, erfasst "den gesamten Vorgang der Verhandlungssitzung, somit im Verfahren nach der StPO auch die Verkündung des Urteils".

Ähnlich sehen dies auch Brandstetter/Schmid (Kommentar zum Mediengesetz, 2. Aufl, Rz 8 zu § 22):
"Das Aufnahme- und Übertragungsverbot erstreckt sich auf die gesamte Verhandlung vom Aufruf der Sache an ... Es umfaßt auch das Plädoyer im Strafprozeß und die öffentliche Verkündung des Gerichtserkenntnisses, die im Beisein der Verfahrensbeteiligten erfolgt. Insofern ist der Begriff der Gerichtsverhandlung nicht im prozeßtechnischen Sinn zu verstehen, sondern im Sinn von öffentlicher Gerichtssitzung."
Auch Christian Broda, unter dessen Ägide als Bundesminister für Justiz das Mediengesetz entstand, teilte diese Ansicht: "Meines Erachtens umfaßt bei richtiger Gesetzesauslegung das Verbot der medialen Übertragung auch die Urteilsverkündung, obwohl dies nicht immer von den Gerichten so gehandhabt wird." Diese Aussage liegt mehr als 30 Jahre zurück (Vortrag bei der Eröffnung des Juristentages im September 1985, abgedruckt im AnwBl 1986, 107 [109]); die Praxis der Gerichte ist seither dieser Auslegung gefolgt - mit Ausnahme nun des Verfassungsgerichtshofs.

Dass Kameras auch bei der Verkündung nicht zulässig sind, sehen im Übrigen auch jene so, die sich bisher kritisch zum "absoluten Verbot" in der gesetzlichen Regelung geäußert haben. Zacharias (in ÖJZ 1996, 681 [687]) schreibt: "Während die Medienöffentlichkeit mit Mikrofon und Kamera bei der Urteilsverkündung eines Gerichtshofs öffentlichen Rechts, trotz der sowohl in Österreich wie auch in Deutschland eindeutig gegenteiligen Rechtslage, in Grundsatzfragen von öffentlichem und demokratiepolitischem Interesse eventuell noch diskutierbar erscheint, stellt sich im Strafverfahren die Lage schon ganz anders dar." (Hervorhebung hinzugefügt). Und Bammer, der (soweit ich das überblicke: als einziger) Bedenken gegen die Verfassungskonformität des ausnahmslosen Ausschlusses von Kameras äußert, schlägt vor, ähnlich der in Deutschland für das Bundesverfassungsgericht getroffenen Sonderregelung auch für den Verfassungsgerichtshof bestimmte geeignete Verfahrensabschnitte "für die elektronische Medienöffentlichkeit" zu öffnen - auch er geht dabei davon aus, dass das Verbot von Fernseh- und Hörfunkaufnahmen sich auch auf die Verkündung erstreckt (in: Österreichische Juristenkommission [Hg.], Recht und Öffentlichkeit, 116 [125]).

Die übereinstimmende Auslegung durch die (ordentlichen) Gerichte und die Lehre hat natürlich gute Gründe, etwa dass der Persönlichkeitsschutz der Verfahrensbeteiligten bei der Verkündung eine ebenso große Rolle spielt wie in der mündlichen Verhandlung im engeren Sinne: sollen die Kameras wirklich auf Angeklagte oder Privatbeteiligte gerichtet sein, wenn sie vom Schuld- oder Freispruch erfahren - hingezoomt, um vielleicht Tränen oder andere Gefühlsaussbrüche einzufangen? Oder wenn man bedenkt, dass die Verfahrensbeteiligten "nicht zu Schauspielern degradiert werden sollen", wie Brandstetter/Schmid schreiben: das gilt natürlich in gleichem Maße für die Verkündung (und, gerade bei der Verkündung, besonders für die Richter_innen, die nicht für die Kameras Recht sprechen, sondern für die Verfahrensparteien). Da der Gesetzgeber sich gegen eine von den Richter_innen vorzunehmende Einzelfallabwägung entschieden hat, kommt es daher auch hier nicht darauf an, ob im Einzellfall etwa Erwägungen des Persönlichkeitsschutzes zum Tragen kommen.

Die Gesetzesmaterialien zu § 22 MedienG geben zur Frage, ob auch die Übertragung der Verkündung von Entscheidungen unzulässig ist, nicht viel her: die Erläuterungen zur Regierungsvorlage (2 BlgNR 15. GP, 36) sprechen zwar von einem "absoluten Verbot", der Justizausschuss (JAB 743 BlgNR 15. GP, 10) erweiterte die zunächst nur für Strafverfahren vorgesehene Regelung auf "alle öffentlichen Gerichtsverhandlungen" - aber eine eindeutige Festlegung, dass damit auch eine - von der mündlichen Verhandlung im engeren Sinne abgesetzte - Verkündung der gerichtlichen Entscheidung noch vom Verhandlungsbegriff des § 22 MedienG erfasst ist, findet sich darin nicht.

Was den Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes letztlich dazu bewogen hat, Kameras im Gerichtssaal zuzulassen, kann man nur vermuten. Da es sich um eine Angelegenheit der Sitzungspolizei handelt, gibt es dazu keine schriftliche (oder auch mündliche) Begründung. Einen Ansatzpunkt könnte man darin finden, dass das Verfassungsgerichtshofgesetz (wie freilich zB auch die ZPO oder die StPO) einen gewissen Trennstrich zwischen der "mündlichen Verhandlung" und der Verkündung der Entscheidung ziehen: § 26 Abs 1 VfGG sieht vor, dass das Erkenntnis, wenn möglich, "sogleich nach Schluss der mündlichen Verhandlung zu fällen" ist. Nach § 26 Abs 2 VfGG wird das Erkenntnis, wenn es nicht "sofort nach Schluss der mündlichen Verhandlung gefällt werden kann", entweder "mündlich in einer besonderen, den Beteiligten nach Schluss der Verhandlung sofort bekanntzugebenden öffentlichen Tagsatzung verkündet" oder schriftlich bekannt gemacht wird (Hervorhebung hinzugefügt).

Zwar kann also zwischen der der mündlichen Verhandlung und der Verkündung unterschieden werden. Das sagt aber noch nichts darüber aus, ob die Verkündung (nach Schluss der mündlichen Verhandlung bzw in einer besonderen Tagsatzung) noch zur "Verhandlung" - nicht nur im Sinne des Mediengesetzes, sondern auch des VfGG - zählt. Das VfGG verwendet nämlich die Begriffe "Verhandlung" und "mündliche Verhandlung" meist - wenn auch nicht durchgängig - differenziert: als mündliche Verhandlung könnte man damit, ähnlich wie im Zivilverfahrensrecht, jenen Teil des Verfahrens verstehen, in dem sich die dazu geladenen Verfahrensparteien an der Erörterung der Rechtssache vor Gericht beteiligen. Die Verhandlung (ohne Einschränkung auf "mündliche Verhandlung") könnte man als Überbegriff verstehen, der über die mündliche Verhandlung hinaus auch den Verfahrensabschnitt der Verkündung mit umfasst.

§ 22 MedienG betrifft, wie schon gesagt, Verhandlungen aller Gerichte. Auch für den Verfassungsgerichtshof bestehen derzeit keine besonderen Regelungen, selbst wenn dieser Gerichtshof sonst in verschiedener Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt. Die Sonderstellung zeigt sich etwa bei der Bestellung seiner Mitglieder, die auch keine Berufsrichter im Sinne des B-VG sind, vor allem aber bei der Art der ihm zur Entscheidung übertragenen Rechtssachen: der Verfassungsgerichtshof entscheidet vielfach über Angelegenheiten, die weit über den Kreis der Verfahrensparteien hinaus von Bedeutung für das demokratische Gemeinwesen sind: Wahlanfechtungen, Kompetenzstreitigkeiten im Bundesstaat, Verfassungswidrigkeiten von Gesetzen und Ähnliches mehr.

Es läge daher rechtspolitisch durchaus nahe, die Frage der Zulässigkeit der TV-Übertragung von (Teilen der) Verhandlungen des Verfassungsgerichtshofes, insbesondere der Verkündung, anders zu regeln als bei Verhandlungen der ordentlichen Gerichte, selbst wenn auch dort immer wieder Fälle mit besonderem öffentlichen Interesse vorkommen - man denke etwa an die Verkündung der Entscheidungen in den Strafverfahren gegen einen ehemaligen Innenminister oder einen einst mächtigen Bankvorstand (in beiden Fällen wurden natürlich von den ordentlichen Gerichten - trotz entsprechenden Andrangs - Kameras bei der Verkündung nicht zugelassen).

Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes über eine Wahlanfechtung unterscheidet sich wesentlich von jenen Fällen, die dem Gesetzgeber bei der Schaffung des § 22 MedienG besonders vor Augen standen: Strafsachen, in denen über Schuld und Strafe von Einzelnen entschieden wird. Im Verfahren über die Wahlanfechtung gibt es zwar auch Verfahrensparteien, deren Persönlichkeitsrechte aber - jedenfalls bei der Bundespräsidentenwahl - nur sehr eingeschränkt geschützt werden müssen. Der Verfahrensausgang betrifft über die Verfahrensparteien hinaus alle Wahlberechtigten und einen wesentlichen Aspekt des demokratischen Prozesses; insofern besteht ein ganz besonderes Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Es mag sein, dass für die Zulassung der TV-Übertragung im Hintergrund auch verfassungsrechtliche Überlegungen maßgebend waren: so könnte ein Verbot der Live-Übertragung der Verkündung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen im Lichte des Art 10 EMRK als bedenklich beurteilt und § 22 MedienG dementsprechend eingeschränkt interpretiert worden sein.

Dazu kommt aus Kommunikationssicht noch, dass der Verfassungsgerichtshof in Zeiten des "Live-Tickers" - wie er etwa bei der Verkündung des Erkenntnisses über die Vorratsdatenspeicherung (bei der es noch keine Live-Übertragung im TV gab) zum Einsatz kam - mit seiner bisher üblichen Kommunikation, insbesondere Pressegesprächen des Präsidenten, zeitlich ins Hintertreffen geraten kann: auch wenn der Präsident unmittelbar nach der Verkündung ein TV-Interview bzw. eine (allenfalls live übertragene) Pressekonferenz gibt, wäre das Ergebnis in den elektronischen Medien bereits bekannt und vielleicht von den einen oder anderen Interessierten schon mit einem gewissen "Spin" versehen, der im Nachhinein schwer wieder einzufangen ist.

Die TV-Übertragung der Erkenntnis-Verkündung zuzulassen bietet einen Ausweg aus diesem Dilemma, der im konkreten Fall vom "Publikum" - insbesondere den Medienmitarbeiter_innen, soweit dies aus diversen Glossen und Kommentaren abzulesen ist - sehr gut aufgenommen wurde. Auch wenn der Präsident des Verfassungsgerichtshofes die Verkündung nicht mit "Im Namen der Republik!" begann, sondern zuvor noch einige allgemeine Worte eher an das Fernsehpublikum als an die anwesenden Verfahrensparteien richtete**), blieb der Charakter der förmlichen Verkündung gewahrt; man hatte nicht den Eindruck, dass Verkündung und Pressekonferenz vermischt oder die Verfahrensparteien und VfGH-Mitglieder - in den Worten von Brandstetter/Schmid - "zu Schauspielern degradiert" worden wären.

Ich bin gespannt, wie der Verfassungsgerichtshof in Zukunft mit der Zulassung von Hörfunk- und Fernsehaufnahmen umgehen wird. Immerhin gab es bisher auch bei hohem Medieninteresse (zB zuletzt bei der Entscheidung über die Vorratsdatenspeicherung) noch keine Live-Fernsehbilder von der Verkündung.

Und gespannt bin ich auch, ob die Diskussion über "Kameras im Gerichtssaal" nun wieder einmal aufflammen wird. Denn die ordentlichen Gerichte werden nicht von ihrem - auch in der Literatur einhellig vertretenen - Verständnis des § 22 MedienG abgehen, wonach auch die Verkündung der gerichtlichen Entscheidung Teil der "Verhandlung" im Sinne des § 22 MedienG ist.

In Deutschland hat man, was die Medienöffentlichkeit betrifft, eine Sondernorm für das Bundesverfassungsgericht geschaffen. § 17a BVerfGG bestimmt nun, abweichend von der generellen Regelung für andere Gerichte (§ 169 Gerichtsverfassungsgesetz), dass Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen bei Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts in folgenden zwei Fällen zulässig sind:
  1. in der mündlichen Verhandlung, bis das Gericht die Anwesenheit der Beteiligten festgestellt hat,
  2. bei der öffentlichen Verkündung von Entscheidungen.
Der österreichische Gesetzgeber hat eine vergleichbare Sonderregelung für den Verfassungsgerichtshof bisher nicht vorgesehen. Der Verfassungsgerichtshof hat sie sich - wohl durch entsprechende einschränkende Auslegung des § 22 MedienG - de facto selbst geschaffen.

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*) In der ursprünglichen Fassung dieses Beitrags, wie sie eine knappe halbe Stunde online war, habe ich von einer erstmaligen Zulassung von TV- und Tonaufnahmen gesprochen; der Sprecher des VfGH hat mich darauf hingewiesen, dass es "seit mehr als zehn Jahren" Praxis sei, bei der Verkündung solche Aufnahmen zuzulassen - das ist allerdings mir (und nicht nur mir) tatsächlich entgangen. Ich habe den Text dementsprechend geändert. Die Live-Übertragung im Fernsehen war aber jedenfalls erstmalig.
Update 31.08.2016: mittlerweile wurde ich auch darauf hingewiesen, dass der VfGH bereits 1985 - und damit schon während der Geltung des Mediengesetzes - Aufzeichnungen im Verhandlungssaal zuließ, und zwar beim Verfahren gegen den Salzburger Landeshauptmann, der im Fernsehbeitrag auch während der Entscheidungsverkündung gezeigt wurde (nachzusehen hier auf der ORF-Website).
Und in Deutschland wurde heute ein Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren vorgestellt (Gesetzesentwurf; Pressemitteilung des Justizministeriums). Wenn dieser Entwurf Gesetz wird, werden sie Obersten Gerichtshöfe des Bundes die Übertragung von Verkündungen von Entscheidungen zulassen können. Zudem soll die Übertragung in Arbeitsräume von Medienvertretern ermöglicht werden sowie die audio-visuelle Dokumentation von Gerichtsverfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung.

**) "Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wahlen sind das Fundament unserer Demokratie. Es ist die vornehmste Pflicht des Verfassungsgerichtshofes, dieses Fundament funktionstüchtig zu halten. Die Entscheidung, die ich jetzt verkünden werde, macht niemanden zum Verlierer und niemanden zum Gewinner. Sie soll allein einem Ziel dienen, das Vertrauen in unseren Rechtsstaat und damit in unsere Demokratie zu stärken."