Thursday, April 04, 2013

VfGH zur Abwägung zwischen Rundfunkfreiheit des ORF und Freiheit der journalistischen Berufsausübung der ORF-JournalistInnen

Darf sich der (stv.) Chefredakteur eines ORF-Landesstudios von seinen JournalistInnen per Rundmail wünschen, dass sie einen Attentäter nicht als "christlichen Fundamentalisten" bezeichnen? KommAustria und Bundeskommunikationssenat (Bescheid des BKS vom 28.03.2012) hatten ein solches Mail als Verletzung des § 32 Abs 1 ORF-Gesetz gesehen (nach dieser Bestimmung hat der ORF die Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit aller programmgestaltenden Mitarbeiter sowie die Freiheit der journalistischen Berufsausübung aller journalistischen Mitarbeiter bei Besorgung aller ihnen übertragenen Aufgaben im Rahmen dieses Bundesgesetzes zu beachten).

Der Verfassungsgerichtshof sieht das anders: mit Erkenntnis vom 14.03.2013, B 518/12 (noch nicht im RIS) hat er den Bescheid des Bundeskommunikationssenates nun aufgehoben, weil der ORF dadurch in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Meinungsäußerungs- und Rundfunkfreiheit verletzt worden sei.

Der VfGH sieht dabei mehrere Grundrechtsträger - zunächst den ORF selbst: "auch die Einflussnahme auf den Inhalt der Berichterstat­tung durch leitende programmgestaltende Mitarbeiter [fällt] in den Schutz­bereich der Rundfunk­frei­heit des ORF" heißt es dazu im Erkenntnis. Grundrechtsträger sind aber auch die journalistischen MitarbeiterInnen, sodass eine Abwägung stattzufinden hat. Im Einzelnen führt der VfGH aus (Hervorhebungen hinzugefügt):
Journalistische Mitarbeiter des ORF [...] genießen die aus Art. 10 EMRK abzuleitende Freiheit der journalistischen Berufsausübung, die durch das BVG Rundfunk konkretisiert wird [...]. Insofern besteht auch eine staatliche Schutzpflicht in den Rechtsbeziehungen zwischen dem Journalisten und dem Rundfunkveranstalter, bei dem er beschäftigt und für den er tätig ist (EGMR 17.9.2009, Fall Manole ua., Appl. 13.936/02, Z 95 ff., 107 [Anm: dazu im Blog hier]). Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend sieht § 32 Abs. 1 ORF-G vor, dass journalistische Mitarbeiter in Ausübung ihrer Tätigkeit insbesondere nicht dazu verhalten werden dürfen, etwas abzufassen oder zu verantworten, was der Freiheit der journalistischen Berufsausübung widerspricht. Ein Recht der journalistischen Mitarbeiter auf uneingeschränkte Veröffentlichung von Sendungen mit bestimmten Inhalten ist aber weder dem Art. I Abs. 2 BVG Rundfunk noch der Bestimmung des § 32 Abs. 1 ORF-G zu entnehmen, anders gewendet: der ORF ist nicht dazu verpflichtet, die von den journalistischen Mitarbeitern gestalteten, ihrer jeweiligen Überzeugung entsprechenden Sendungsinhalte zu veröffentlichen.
Die Freiheit der journalistischen Berufsausübung ist nicht schrankenlos, sondern ihrerseits durch die Rundfunkfreiheit des ORF und insbesondere das Objektivitätsgebot begrenzt (vgl. VfSlg. 12.086/1989). Die Kollision zwischen der individuellen Freiheit der einzelnen journalistischen Mitarbeiter und der ihr insoweit entsprechenden Schutzpflicht einerseits und der Rundfunkfreiheit des ORF andererseits ist durch Abwägung der Interessen im Rahmen von Art. 10 Abs. 2 EMRK zum Ausgleich zu bringen. Auf einfachgesetzlicher Ebene treffen § 33 ORF-G und das auf seiner Grundlage ergangene Redakteursstatut, die insbesondere auch Regelungen darüber enthalten, wie bei einem Konflikt zwischen der Medienfreiheit des einzelnen Mitarbeiters und der Pflicht zur Wahrung des Objektivitätsgebots im Fall der redaktionellen Bearbeitung des Beitrags eines journalistischen Mitarbeiters vorzugehen ist, Vorkehrungen dafür, dass die Medienfreiheit des einzelnen journalistischen Mitarbeiters gewahrt wird.
Gestützt auf seine Rundfunkfreiheit ist der ORF unter Wahrung der Meinungsfreiheit des einzelnen journalistischen Mitarbeiters jedenfalls berechtigt, auf Sendungsinhalte Einfluss zu nehmen, soweit dies zur Einhaltung der dem ORF verfassungsgesetzlich aufgegebenen Verpflichtung zur Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung und zur Berücksichtigung der Meinungsvielfalt erforderlich ist, wie sich aus Art. I Abs. 2 BVG Rundfunk ergibt. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einflussnahme auf Sendungsinhalte durch den ORF (dh. durch das eine Anweisung gebende Organ) ist jedoch nicht auf diese Fälle beschränkt, steht dem ORF doch das von Art. 10 EMRK iVm dem BVG Rundfunk geschützte Recht zu, im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben seine Sendungen zu gestalten. Dabei hat der ORF, wenn es wie hier um den Ausgleich kollidierender Ansprüche zweier Grundrechtsträger geht, einen Beurteilungsspielraum, der seine Grenze in der individuellen Freiheit des einzelnen journalistischen Mitarbeiters findet.
Der ORF und die dem einzelnen Mitarbeiter vorgesetzten Organe dürfen – jenseits der Entscheidung, ob ein bestimmter von einem journalistischen Mitarbeiter gestalteter Beitrag überhaupt gesendet wird – auf den Inhalt der Sendung nicht dergestalt Einfluss nehmen, dass Tatsachenmitteilungen in Nachrichtensendungen unterdrückt werden müssen, bestimmte Quellen, wie zB Agenturmeldungen, nicht ausgewertet werden dürfen oder bereits recherchierte Fakten unberücksichtigt bleiben müssen. Den Organen des ORF ist im Rahmen der Rundfunkfreiheit aber nicht jede Möglichkeit genommen, gegenüber journalistischen Mitarbeitern auf Bewertungen Einfluss zu nehmen, die – zumal bei unsicherer Tatsachenlage – eine Berichterstattung zur Folge haben könnten, die in Konflikt mit den gesetzlichen Vorgaben geraten könnte. [...]
Dabei muss der ORF zur Abwendung der Feststellung einer Gesetzesverletzung nicht nachweisen, dass eine solche Einflussnahme tatsächlich erfolgen muss, damit der ORF die Verletzung des Objektivitätsgebots oder anderer gesetzlicher Vorgaben vermeiden kann. Vielmehr muss als Voraussetzung für die Feststellung einer Verletzung des ORF-G begründbar sein, dass die Freiheit der journalistischen Berufsausübung in unverhältnismäßiger Weise beschränkt wurde, etwa dadurch, dass die Annahme zutrifft, eine anweisende Person habe aus dem Motiv gehandelt, Informationen über bestimmte Tatsachen zu unterdrücken.
Mit anderen Worten: eine Einflussnahme von Vorgesetzten auf die Berichterstattung ist zulässig, und der ORF braucht sich bei einer dementsprechenden Weisung oder einem "Wunsch" auch nicht freibeweisen, dass die Einflussnahme notwendig war, um eine sonst drohende Gesetzesverletzung abzuwenden. Nur wenn man begründen kann, dass die Weisung (der "Wunsch") gerade dazu dienen sollte, die gebotene objektive Berichterstattung zu verhindern, läge ein Verstoß gegen § 32 Abs 1 ORF-G vor.

Für den konkreten Fall analysiert der VfGH dann noch das Mail des stv. Chefredakteurs, das - so der VfGH - eine "zurückhaltend formulierte" Empfehlung gewesen sei: "Der Verfasser der E-Mail hat somit auf Grundlage der Annahme einer unsicheren Tatsachenlage eine Empfehlung abgegeben, die im Zusammenhang mit der vorangehenden Begründung nachvollziehbar ist."

Der Bundeskommunikationssenat habe daher nicht davon ausgehen können, dass die Aufforderung durch den für die Sendung verantwortlichen Redakteur, eine bestimmte Formulierung nicht zu verwenden, die Freiheit der journalistischen Mitarbeiter in einem Ausmaß beeinträchtigt hätte, das die Feststellung einer Verletzung des ORF-G rechtfertigen würde. Die Feststellung der Verletzung des § 32 Abs 1 ORF G bedeute unter diesen Umständen eine Verletzung des Art 10 EMRK iVm dem Art I Abs 2 BVG Rundfunk.

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