Monday, April 30, 2012

Etwas off topic: sechs banale Anmerkungen zum Urheberrecht

Ich habe gerade eine Veranstaltungsankündigung für das 8. Österreichische Rundfunkforum gepostet, das sich am 20. und 21. September 2012 mit Urheberrechtsfragen befassen wird. Ein paar eher systematisierende Anmerklungen in diesem Zusammenhang wollte ich nicht einfach an die Veranstaltungsankündigung anhängen, sodass ich sie hier gesondert poste. Es geht mir dabei - angesichts der oft etwas unübersichtlichen Diskussion - nur um eine einfache Strukturierung, mit wenigen, vielleicht banalen Eckpunkten (inhaltlich will ich mich hier nicht näher äußern):

1. Geltendes Recht ist einzuhalten
Dass geltendes Recht einzuhalten ist, auch wenn es gerade im Urheberrecht streckenweise eigentümlich und altmodisch scheint, setze ich als selbstverständlich voraus. Dass ich diese Selbstverständlichkeit ausdrücklich erwähne, hat seinen Grund im Generalverdacht, unter den gelegentlich alle gestellt werden, die sich kritisch mit Grundrechtsfragen der Rechtsdurchsetzung oder der Ausweitung von Schutzrechten befassen.

2. Das geltende Recht ist unübersichtlich und für Laien schwer verständlich 
Auch das ist eine - nicht nur für das Urheberrecht geltende - Selbstverständlichkeit. Ich betone das hier, um die vielen Laien, die sich derzeit zum Urheberrecht zu Wort melden, ein wenig in Schutz zu nehmen - sie können nicht alles wissen.*) Nicht nur die verschiedenen internationalen Rechtsschichten sind nicht immer einfach zu durchschauen, auch das nationale Recht hält eine Vielzahl von Ausnahmen und Gegenausnahmen, Einschränkungen und Erweiterungen von Rechten bereit, sodass sich auch Profis mitunter schwer tun, rechtlich haltbare und dennoch gangbare Strategien zum Umgang mit Urheberrechtsfragen zu finden. Im Übrigen stimmt das österreichische Recht gerade nicht in allen Details mit deutschem oder gar britischem Urheberrecht überein, geschweige denn mit dem copyright im US-amerikanischen Sinn.
Dass auch die Verfechter härtester Urheberrechtsdurchsetzung im eigenen Bereich gelegentlich nicht so sorgfältig arbeiten, wie sie dies von anderen einfordern, entschuldigt keine der beiden Seiten, zeigt aber deutlich, dass selbst Verleger manchmal mit dem Urheberrecht überfordert sind (nur ein Tipp für den Vorsitzenden der VÖZ-Arbeitsgruppe Urheberrecht und TT-Geschäftsführer Hermann Petz: "Foto: facebook.com" ist in der Regel keine hinreichende Urheberbezeichnung).

3. Eigentum, auch geistiges Eigentum, ist nicht schrankenlos
Als Jurist habe ich natürlich kein Problem mit dem Begriff "geistiges Eigentum" (das übrigens als solches ausdrücklich in Art 17 Abs 2 der EU-Grundrechtecharta geschützt wird). Die vor allem von NichtjuristInnen geführten terminologischen Debatten in diesem Zusammenhang halte ich für ziemlich entbehrlich. Wichtig ist aber festzuhalten, dass geistiges Eigentum genauso wie Eigentum an materiellen Sachen gewissen Einschränkungen unterliegt: so muss etwa ein Waldeigentümer die Benutzung des Waldes zu Erholungszwecken durch jedermann dulden (§ 33 ForstG), und wer ein Werk der Literatur geschaffen hat, muss in gewissem Rahmen zB die Verwendung in Schulbüchern hinnehmen (§ 45 UrhG). Dass etwas als "geistiges Eigentum" bezeichnet wird, sagt für sich also nichts über die genauen Grenzen der Verfügungsmacht der EigentümerInnen aus.

4. Rechtsdurchsetzung kann an grundrechtliche Schranken stoßen
Ladendiebstahl ist ein rechtswidriger Eingriff ins Eigentum. Dennoch darf der Kaufhausdetektiv einen davonlaufenden Ladendieb nicht einfach erschießen, um die gestohlenen Waren zurückholen zu können. Auch die Verfolgung von Eingriffen in geistiges Eigentum kann an grundrechtliche Schranken stoßen, wie die umstrittene Frage der Verwendung von "Vorratsdaten" zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen zeigt. Wo hier die genaue Grenze zu liegen kommt, wird sich wohl erst in einiger Zeit im Wechsel- und Zusammenspiel von Gesetzgeber und Rechtsprechung herausstellen.

5. Technischer und gesellschaftlicher Wandel erfordert rechtliche Anpassungen
Technische und gesellschaftliche Entwicklungen stellen die Rechtsordnung immer wieder vor neue Herausforderungen. Die Gesetzgebung - egal ob auf nationaler oder europäischer Ebene - muss diesen Entwicklungen Rechnung tragen. Gerade im Urheberrecht gibt es enormen Aufholbedarf, um wieder auf die Höhe der Zeit zu kommen, und langsam dürfte das sogar in Österreich auffallen. Ob und wenn ja wo das geltende Urheberrecht gesellschaftlich wünschenswerten Entwicklungen im Wege steht, wird man sich dabei ebenso fragen müssen wie ob Schutzlücken zu Lasten von UrheberInnen bestehen und wie diese gegebenenfalls zu schließen wären. Auch das Verhältnis von Urheberrecht zu anderen grundrechtlich geschützten Positionen - etwa dem Schutz des Kommunikationsgeheimnisses oder der Meinungsäußerungsfreiheit - wird unter Berücksichtigung des technischen und gesellschaftlichen Wandels neu abzuwägen sein. In welcher Weise die Regeln umgestaltet werden, ist Gegenstand politischer Aushandlungsprozesse mit all den üblichen Begleiterscheinungen wie insbesondere dem soeben gut zu beobachtenden Hochfahren der Lobbying- und PR-Maschinerie. Wie gesagt: zu den politischen Fragen einer Urheberrechtsreform will ich hier nicht weiter Stellung nehmen, wohl aber betonen, dass ich eine Modernisierung für dringend notwendig halte.

6. Die Einführung neuer Schutzrechte beschränkt die Rechte anderer 
Wer ein neues Schutzrecht erfindet, schützt nicht geltendes Recht, sondern greift in die Rechte anderer ein. Die Einführung eines verlegerischen Leistungsschutzrechtes, wie es nun auch in Österreich (ausdrücklich "nach deutschem Vorbild"!) von Verlegerseite gefordert wird, würde derzeit bestehende Rechte anderer einschränken (sonst wäre es ja sinnlos). Auch hier will ich die rechtspolitische Frage, ob ein erweitertes "Leistungsschutzrecht" für Verleger geschaffen werden soll, nicht weiter kommentieren, sondern bloß anmerken, dass die Diskussion darüber nicht einseitig zwischen Verlegern und Gesetzgeber zu führen ist, sondern auch die von einer Einschränkung ihrer Rechte betroffenen User einbeziehen muss.

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*) Nur zwei Beispiele von den üblichen journalistischen Großkommentatoren: Armin Thurner bezieht sich in seinem Leitartikel im letzten Falter ausdrücklich auf "die Weiterentwicklung von offenen Entwicklergemeinschaften nach dem klassischen Linux-Muster", die er "nicht durch restriktiv gehandhabte Patentrechte blockiert" wissen will; zugleich aber postuliert er, dass die "Urheberschaft an technischen oder medizinischen Patenten" etwas anderes sei "als Urheberschaft an Texten, Filmen etc."; nach österreichischem Urheberrecht sind aber Computerprogramme tatsächlich "Werke der Literatur" und urheberrechtlich nach §§ 40a bis 40e UrhG geschützt, die Weiterentwicklung von Computerprogrammen ist - hierzulande - also nicht eine Patent-, sondern primär eine Urheberrechtsfrage. Christian Rainer wiederum schreibt im jüngsten profil über Piraten und hält dabei apodiktisch fest, dass (u.a.) journalistische Texte denen gehören, die sie geschrieben haben - ob er die Verträge der journalistischen MitarbeiterInnen des Verlags kennt?

Veranstaltungshinweis: 8. Österreichisches Rundfunkforum - Immaterialgüterrecht in elektronischen Medien, 20.-21.9.2012

Es ist zwar noch einige Zeit bis zum September, aber weil Urheberrechtsthemen derzeit - endlich - Konjunktur haben, will ich doch schon jetzt auf das kommende 8. Österreichische Rundfunkforum am 20. und 21. September 2012 hinweisen, das sich diesmal dem Immaterialgüterrecht in elektronischen Medien widmen wird (Disclaimer: Veranstalter ist das Forschungsinstitut für das Recht der elektronischen Massenmedien [REM], dessen Vorstand ich angehöre).

Unter den Referentinnen und Referenten sind unter anderem EuGH-Generalanwältin Verica TrstenjakSilke von Lewinsky vom Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht und Florian Philapitsch, der nicht nur stv. Vorsitzende der KommAustria ist, sondern vor allem einer der wenigen österreichischen Urheberrechtsexperten in Österreich, dessen Zugang nicht durch anwaltliche Mandate, Gutachtensaufträge oder Anstellungsverhältnisse vorgeprägt ist (und der btw zum Thema "Die digitale Privatkopie" dissertiert hat). Das volle Programm:
  • Das Urheberrecht im digitalen Zeitalter (Dr. Florian Philapitsch LL.M., Stellvertretender Leiter der KommAustria, Wien)
  • Das Urheberrecht im Spiegel der europäischen Rechtsprechung (Generalanwältin Univ.Prof. Dr. Verica Trstenjak, Gerichtshof der Europäischen Union, Luxemburg)
  • Das Urheberrecht in elektronischen Medien im Rechtsvergleich (Adj.Prof. Dr. Silke von Lewinsky, Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, München)
  • Das Urheberrecht in elektronischen Medien - die österreichische Perspektive (StA Dr. Christian Auinger, Bundesministerium für Justiz, Wien)
  • Das Recht der Verwertungsgesellschaften vor europäischen Herausforderungen (Dr. Sandra Csillag, Literar-Mechana, Wien)
  • Die Vorhaben der EU-Kommission (Mag. Nikolaus Obrovski, Europäische Kommission, GD Markt, Brüssel) 
  • Das Urheberrecht im Konflikt zwischen Rechteinhabern und Nutzern
Wer mehr von der Seite der Rechteinhaber und -verwerter hören will, kann ja eine Woche später eine Veranstaltung bei Mansteins Medientagen besuchen, wo eine einschlägige Herrenrunde ganz ohne lästige Vertreter der NutzerInnen über das Urheberrecht als "Öl des 21. Jahrhunderts" diskutieren wird.

Thursday, April 26, 2012

EuGH: Vertragsverletzung Zyperns wegen intransparenter Genehmigungsverfahren für Basisstationen

Mit Urteil vom 26.04.2012, C-125/09, Kommission / Zypern, hat der EuGH eine Vertragsverletzung Zyperns wegen mangelhafter Umsetzung von Art 11 Abs 1 der RL 2002/21/EG (RahmenRL) und von Art 4 Abs 1 der RL 2002/20/EG (GenehmigungsRL)*) festgestellt.

Das Vertragsverletzungsverfahren hatte seinen Ausgang von einer an die Kommission gerichteten Beschwerde des zweiten zypriotischen Mobilnetzbetreibers genommen, der sich in seinen Ausbauplänen einerseits durch den rechtlichen Rahmen und andererseits durch diskriminierende Praktiken der Behörden bei der Erteilung der erforderlichen Bewilligungen benachteiligt gefühlt hatte.

Nach zypriotischem Recht mussten Bereitsteller elektronischer Kommunikationsetze lokale Genehmigungen einholen, um Einrichtungen auf öffentlichem oder privatem Grund zu errichten. Die Netzbetreiber mussten sich vergewissern, dass sie über alle notwendigen Rechte und Genehmigungen der zuständigen Behörde verfügten. Funknetzbetreiber mussten für ihre Funkstationen eine planungsrechtliche Bewilligung ("permis d'urbanisme") und für bauliche Einrichtungen auf öffentlichem Grund eine Zustimmung des Ministerrats einholen. (Die Rechtsvorschriften wurden mittlerweile - zumindest wenn man dem von der Kommission teilweise bestrittenen Vorbringen Zyperns vor dem EuGH folgt - geändert; allerdings jedenfalls zu spät für das Vertragsverletzungsverfahren)

Die Kommission griff die Beschwerde des Netzbetreibers auf und leitete schließlich das Vertragsverletzungsverfahren gegen Zypern ein. Vor dem EuGH machte die Kommission zwei wesentliche Kritikpunkte geltend: zum einen die mangelnde Koordination der Bau- und Planungsvorschriften, zum anderen das unvollständige Regelwerk betreffend die Errichtung von Antennen und Masten, was zu Nachteilen für die Betreiber führe.

Der Gerichtshof folgte der Kommission darin, dass das Genehmigungsregime für Wegerechte auf öffentlichem Grund intransparent war. Dies schon deshalb, weil die nationalen Behörden eine Prüfung der Umweltauswirkungen der elektromagnetischen Felder vorgenommen hatten, obwohl dies in den nationalen Rechtsvorschriften nicht vorgesehen war. Außerdem hatte Zypern auch zugegeben, dass es aufgrund überlappender Zuständigkeiten der Bau- und Planungsbehörden zu Verzögerungen bei der Erteilung von Wegerechten für die Installation von Masten und Antennen gekommen war.

Unter diesen Umständen, so der EuGH, habe es Zypern verabsäumt, die Gewährung von Wegerechten auf der Grundlage transparenter und nichtdiskriminierender, unverzüglich angewandter Verfahren in Übereinstimmung mit Art 11 Abs 1 der RahmenRL und Art 4 Abs 1 der GenehmigungsRL sicherzustellen.

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*) Nach Art 11 Abs 1 der RahmenRL sorgen die Mitgliedstaaten dafür, 
dass die zuständige Behörde
- bei der Prüfung eines Antrags auf Erteilung von Rechten für die Installation von Einrichtungen auf, über oder unter öffentlichem oder privatem Grundbesitz an ein Unternehmen, das für die Bereitstellung öffentlicher Kommunikationsnetze zugelassen ist, oder
- bei der Prüfung eines Antrags auf Erteilung von Rechten für die Installation von Einrichtungen auf, über oder unter öffentlichem Grundbesitz an ein Unternehmen, das für die Bereitstellung von nicht-öffentlichen elektronischen Kommunikationsnetzen zugelassen ist,
wie folgt verfährt:
- Sie handelt auf der Grundlage transparenter, öffentlich zugänglicher Verfahren, die nichtdiskriminierend und unverzüglich angewandt werden, und
- sie befolgt die Grundsätze der Transparenz und der Nichtdiskriminierung, wenn sie die betreffenden Rechte an Bedingungen knüpft.
Die vorstehend genannten Verfahren können je nachdem, ob der Antragsteller öffentliche Kommunikationsnetze bereitstellt oder nicht, unterschiedlich sein.
Art 4 der GenehmigungsRL regelt die "Mindestrechte aufgrund einer Allgemeingenehmigung" und besagt in seinem Abs 1, dass Unternehmen, denen gemäß Art 3 der GenehmigungsRL eine Genehmigung erteilt wurde, das Recht haben,
a) elektronische Kommunikationsnetze und -dienste bereitzustellen;
b) zu veranlassen, dass ihr Antrag auf Erteilung der notwendigen Rechte zur Installation der Einrichtungen gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2002/21/EG (Rahmenrichtlinie) geprüft wird.

Sunday, April 22, 2012

Warum Vorratsdaten nicht gleich Vorratsdaten sind: Bonnier Audio

Das EuGH-Urteil vom vergangenen Donnerstag in der Rechtssache Bonnier Audio hat - wie immer, wenn das Wort "Vorratsdaten" vorkommt - einige Aufregung ausgelöst. Vor allem Schlagzeilen wie "EU: Vorratsdaten gegen Filesharing erlaubt" oder "Raubkopien: EU erlaubt Identifizierung mit Vorratsdaten" erwecken den falschen Eindruck, der EuGH habe sich mit der Verwendung von "Vorratsdaten" im Sinne der Richtlinie 2006/24 über die Vorratsspeicherung von Daten befasst. Ich habe schon darauf hingewiesen (im Blog hier), dass die vom EuGH verwendete Wendung von "auf Vorrat" gespeicherten Daten nicht Vorratsdaten im Sinne der RL 2006/24 meint, möchte aber nochmals versuchen, etwas zum Verständnis des EuGH-Urteils beizutragen. Das soll zwar möglichst knapp sein, aber ein wenig ausholen muss ich zunächst doch:

Grundsatz: Verkehrsdaten löschen, sobald nicht mehr für Abrechnung notwendig
Für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste gilt neben der allgemeinen Datenschutzrichtlinie 95/46/EG noch die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation 2002/58/EG. Was die Aufbewahrung von Verkehrsdaten betrifft (und damit auch die Aufbewahrung der Daten darüber, wer wann welche dynamische IP-Adresse genutzt hat), gibt es in Art 6 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation einen klaren Grundsatz: Verkehrsdaten sind zu löschen, sobald sie nicht mehr für die Übertragung der Nachricht oder für die Abrechnung erforderlich sind.

1. Ausnahme: mitgliedstaatlich gesetzlich geregelte Aufbewahrungspflichten im Einklang mit den Grundrechten
Von diesem Grundsatz - Löschen der Verkehrsdaten, sobald sie nicht mehr für die Abrechnung benötigt werden - gab es schon vor Inkrafttreten der Vorratsdatenrichtlinie eine wesentliche Ausnahme: nach Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 konnten die Mitgliedstaaten nämlich vorsehen, dass auch Verkehrsdaten aus bestimmten Gründen länger aufbewahrt werden mussten. Der Wortlaut dieser Bestimmung ist durch die Verweistechnik recht unübersichtlich, ich fasse hier das Wesentliche zusammen: 
  • Für eine nach Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 zulässige Pflicht, Daten "auf Vorrat" zu halten, ist eine ausdrückliche Rechtsvorschrift erforderlich,
  • die Aufbewahrung darf nur für eine begrenzte Zeit vorgeschrieben werden,
  • sie muss aus einem der folgenden Gründe notwendig sein: nationale Sicherheit, Landesverteidigung,  öffentliche Sicherheit sowie Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen 
  • sie muss in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig sein; 
  • sie muss den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts entsprechen (unter anderem Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit) 
Mit anderen Worten: die Datenschutzrichtline für elektronische Kommunikation ermöglichte den Mitgliedstaaten immer schon - auch ohne Vorratsdatenrichtlinie - die Schaffung von Aufbewahrungspflichten für Verkehrsdaten, aber eben nur aus bestimmten legitimen Gründen, unter Abwägung der Verhältnismäßigkeit und Beachtung der Grundrechte. Die Mitgliedstaaten waren aber unionsrechtlich nicht verpflichtet, solche Aufbewahrungspflichten vorzusehen. 

2. Ausnahme: Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten
Erst durch die Vorratsdatenrichtlinie wurden die Mitgliedstaaten verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass bestimmte Verkehrsdaten von Kommunikationsdiensteanbietern "auf Vorrat gespeichert werden" (Art 3 der RL 2006/24). Diese Regelung bedeutete auf Unionsebene einen bewussten Paradigmenwechsel: die angefallenen Daten sollten - losgelöst vom ursprünglichen Zweck der Verarbeitung - verpflichtend für eine bestimmte Zeit gespeichert werden, dies "zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten, wie sie von jedem Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht bestimmt werden" (Art 1 Abs 1 der RL 2006/24). 

Zugleich wurden die Mitgliedstaaten zur Erlassung von Maßnahmen verpflichtet, "um sicherzustellen, dass die gemäß dieser Richtlinie auf Vorrat gespeicherten Daten nur in bestimmten Fällen und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht an die zuständigen nationalen Behörden weitergegeben werden". Im Zusammenhang mit der Zielsetzung der Richtlinie und ihrem in Art 1 umschriebenen Gegenstand ist davon auszugehen, dass der Zugang nur bei "schweren Straftaten" - wie immer diese im jeweiligen Mitgliedstaat auch definiert werden - zulässig ist. Auch geht es immer nur um die Weitergabe der Vorratsdaten an Behörden, nicht aber - wie im Fall Bonnier Audio - um einen privatrechtlichen Auskunftsanspruch eines Rechteinhabers gegenüber einem ISP.

Zwischenfazit: ein direkter Auskunftsanspruch von Rechteinhabern auf Vorratsdaten im Sinne der RL 2006/24 gegenüber ISPs ist schon deshalb ausgeschlossen, weil Vorratsdaten nach dieser RL nur an die zuständigen Behörden weitergegeben werden dürfen.

Zum Verhältnis zwischen Unionsrecht und dem Recht des Mitgliedstaats
Wenn ein Bereich durch eine Richtlinie harmonisiert ist, dürfen Mitgliedstaaten davon nicht abweichen (bzw nur soweit dies die Richtlinie selbst zulässt). Das klingt einfach, wird aber immer dann schwierig, wenn man sich fragt, was denn nun im Fall einer konkreten Richtlinie der Anwendungsbereich ist, in dem die Mitgliedstaaten nichts Abweichendes mehr regeln dürfen. Ginge man etwa davon aus, dass durch die VorratsdatenRL alle Verpflichtungen zum Speichern (und gegebenenfalls Weitergeben) von Daten aus Kommunikationsverbindungen abschließend geregelt werden sollten, dann wäre im Fall Bonnier Audio die im schwedischen Verfahren angestrebte Auskunft von vornherein unzulässig: die Vorschriften des Urheberrechts, die eine derartige Auskunft ermöglichen, wären dann nämlich evident richtlinienwidrig. 

Gerade das ist aber nicht der Fall, wie der EuGH nun ausgesprochen hat: "Die betreffenden [schwedischen Urheber-]Rechtsvorschriften fallen somit nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2006/24" (RNr 45 des Urteils). Schon allein weil die RL 2006/24 den Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 nicht geändert hat, sondern vielmehr ausdrücklich darauf Bezug nimmt (und einen Art 15 Abs 1a in die RL 2002/58 einfügt), fällt es schwer, eine Argumentation zu finden, die ein anderes Ergebnis begründen könnte.

Der normative Kern des Bonnier Audio-Urteils ist daher meines Erachtens ebenso klar wie unspektakulär: die VorratsdatenRL steht mitgliedstaatlichen Regelungen, die nach Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 zulässig sind, nicht entgegen. 

Zum Vorabentscheidungsverfahren
Ist für Nichtjuristen schon das Verhältnis zwischen Unionsrecht und Recht des Mitgliedstaates oft dunkel, so gilt dies noch viel mehr für das Zusammenspiel zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten bei Vorabentscheidungsverfahren. In solchen Verfahren hat der EuGH nicht über nationale Gesetze oder Streitigkeiten zu entscheiden, sondern Fragen zur Auslegung (oder Gültigkeit) des Unionsrechts zu beantworten, die ihm von den nationalen Gerichten vorgelegt werden. Dabei formuliert er die Fragen zwar manchmal ein wenig um, manchmal (gerade auch im Fall Bonnier Audio, ab RNr 47) beantwortet er auch Fragen, die zumindest nicht ausdrücklich gestellt wurden, aber er ist grundsätzlich auf das angewiesen, was das nationale Gericht im Vorabentscheidungsersuchen dargelegt hat.

Im Fall Bonnier Audio wird dies vor allem in RNr 37 deutlich: der EuGH erklärt ausdrücklich, dass er "von der Prämisse ausgeht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Daten in Übereinstimmung mit den nationalen Rechtsvorschriften unter Beachtung der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 festgelegten Voraussetzungen auf Vorrat gespeichert worden sind", und er betont, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, dies zu prüfen. 

Ich halte diese Prämisse für ganz entscheidend: wäre der EuGH völlig sicher gewesen, dass die Daten, um die es ging, zulässigerweise auf einer gesetzlichen Grundlage im Sinne des Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 "auf Vorrat gespeichert" wurden (besser wäre freilich iSd Art 15 Abs 1 RL 2002/58 die Formulierung: "während einer begrenzten Zeit aufbewahrt" wurden), so hätte er diesen nachdrücklichen Hinweis kaum für notwendig erachtet. Gerade mit der Betonung dieses Umstands, der vom vorlegenden Gericht nicht angesprochen wurde und der vom EuGH nicht geprüft werden konnte, macht der EuGH die Schwachstelle des gesamten Falles klar: die Frage, aus welchem Grund der ISP eigentlich (noch) über die Daten verfügte

Wären die Daten nach der VorratsdatenRL gespeichert worden, so wäre eine Auskunftserteilung jedenfalls unzulässig (die RL ist in Schweden allerdings noch nicht umgesetzt). Die Auskunftserteilung aus anderen Daten wiederum setzt voraus, dass der ISP diese Daten zum Zeitpunkt des Auskunftsersuchens zulässigerweise noch gespeichert hatte (etwa weil er bei mengenbezogener Abrechnung noch nicht Rechnung gelegt hatte, oder weil nationale Rechtsvorschriften im Einklang mit Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 ihm die Speicherung aufgetragen haben). Wie das im konkreten Fall tatsächlich ist, bleibt im EuGH-Urteil notwendigerweise offen.

Zusammenfassung:
Daten aus der Vorratsdatenspeicherung im engeren Sinne (Daten, die auf Grundlage einer die RL 2006/24 umsetzenden Rechtsvorschrift gespeichert wurden) dürfen auch nach dem Bonnier Audio-Urteil nicht, wie in manchen Pressemeldungen befürchtet, "zur Identifizierung von Raubkopierern" im Rahmen privatrechtlicher Auskunftsansprüche herangezogen werden. Auf Verkehrsdaten, die auf Grund einer gesetzlichen Regelung im Sinne des Art 15 Abs 1 RL 2002/58 (noch) zulässig gespeichert sind, könnte aber nach Maßgabe allfälliger mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften nach einer im Einzelfall vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung sowie Interessenabwägung zurückgegriffen werden. 

In Österreich ist übrigens ein Auskunftsanspruch in § 87b Urheberrechtsgesetz geregelt. Der OGH hat dazu im LSG-Urteil (siehe dazu im Blog hier) ausgesprochen, dass eine Auskunft nicht zu erteilen ist, wenn der ISP dazu rechtswidrig Verkehrsdaten (wie dynamische IP-Adressen) verarbeiten müsste. Damit hat das EuGH-Urteil im Fall Bonnier Audio für Österreich aus zwei Gründen keine besondere Bedeutung (außer natürlich für die Diskussion um Reformen des Urheber- und/oder des Datenschutzrechts):  
  • erstens besteht in Österreich keine Rechtsvorschrift, nach der ISPs Daten aus bestimmten Gründen  im Sinne des Art 15 Abs 1 der RL 2002/58  "während einer begrenzten Zeit aufbewahren" dürften oder gar müssten (dass Daten aus der Vorratsdatenspeicherung im engeren Sinn nicht für andere Zwecke verwendet werden dürfen, ergibt sich übrigens klar aus § 102b TKG 2003), und 
  • zweitens besteht auch für die Verkehrsdaten, die etwa aus Abrechnungsgründen noch kurzfristig gespeichert sind, kein privatrechtlicher Auskunftsanspruch.

Thursday, April 19, 2012

EuGH: Bonnier Audio - Auskunft über IP-Adressen von filesharern nur nach Abwägung im Einzelfall

Der EuGH hat heute das Urteil in der Rechtssache C-461/10 Bonnier Audio AB ua verkündet. In diesem Verfahren werden gleich zwei aktuell heiß umstrittene Themen angesprochen: Vorratsdatenspeicherung einerseits und Durchsetzung von Immaterialgüterrechten im digitalen Umfeld andererseits. Doch so spannend auch die Themen sind, das Urteil selbst bietet keine Überraschung und auch keine nennenswerten neuen Erkenntnisse. (Zu den Schlussanträgen habe ich hier geschrieben, das Urteil wurde schon auf internet-law.de, auf kLAWtext und natürlich bei EDRI besprochen).

Vorlagefragen
Das Urteil erging in einem Vorabentscheidungsverfahren, eingeleitet vom schwedischen Obersten Gerichtshof in einem Streit zwischen Rechteinhabern (konkret Herausgebern von Hörbüchern, unter anderem Bonnier Audio) und einem Internet Service Provider (ePhone), über dessen Server diese Hörbücher angeblich/vermutlich illegal verbreitet wurden. Bonnier Audio beantragte beim zuständigen Gericht eine Verfügung, wonach der ISP Auskunft über Name und Adresse jener Person erteilen sollte, der zu einem genau bezeichneten Zeitpunkt eine bestimmte IP-Adresse nutzte, von der angenommen wurde, dass von ihr aus die Daten übertragen wurden. Das Gericht fragte vor allem, ob die RL über die Vorratsspeicherung von Daten 2006/24/EG einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die auf Grundlage von Art 8 der DurchsetzungsRL 2004/48/EG erlassen wurde, "und nach der in einem zivilrechtlichen Verfahren einem Internetdienstleister zu dem Zweck, einen bestimmten Teilnehmer identifizieren zu können, aufgegeben werden kann, einem Urheberrechtsinhaber oder dessen Vertreter Auskunft über den Teilnehmer zu geben, dem der Internetdienstleister eine bestimmte IP‑Adresse zugeteilt hat, von der aus dieses Recht verletzt worden sein soll". Wesentlich ist, dass schon das vorlegende Gericht der Frage folgenden Zusatz mitgab:
"Dabei ist davon auszugehen, dass der Antragsteller klare Beweise für eine Urheberrechtsverletzung vorgelegt hat und dass die Maßnahme verhältnismäßig ist."
Zum Urteil
Der EuGH hatte sich schon in den Rechtssachen C-275/06 Promusicae (im Blog dazu hier) und C-557/07 LSG (im Blog dazu hier) mit der Frage befasst, ob Auskunftspflichten von ISPs über IP-Adressen von vermuteten Rechteverletzern nach Unionsrecht geboten sind (insbesondere nach der DurchsetzungsRL 2004/48/EG), oder ob sie im Gegenteil vielleicht verboten sind (insbesondere nach der DatenschutzRL für elektronische Kommunikation 2002/58/EG). Das Ergebnis habe ich schon zum Promusicae-Fall sehr grob so zusammengefasst: "Kein Gebot [zu Speicherung und Auskunft], aber auch kein definitives Verbot - und über allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz". Die Rechtssache Bonnier Audio ändert daran im Ergebnis nichts.

Der EuGH hält zunächst fest, dass er "von der Prämisse ausgeht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Daten in Übereinstimmung mit den nationalen Rechtsvorschriften unter Beachtung der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 festgelegten Voraussetzungen auf Vorrat gespeichert worden sind".
Achtung: hier geht es - trotz der Wendung "auf Vorrat gespeichert" - nicht um die nach der VorratsdatenRL gespeicherten Vorratsdaten, sondern um Daten, die nach Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 gestützt auf eine entsprechende Rechtsvorschrift - auf Vorrat "während einer begrenzten Zeit aufbewahrt" wurden. Diese sozusagen "klassische Vorratsdatenspeicherung" ist unter anderem zur "Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen" zulässig; muss darüberhinaus aber auch "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig" sein.

Dann prüft der EuGH, ob durch die VorratsdatenRL auch die Speicherung und Verwendung von Daten für Zwecke zivilrechtlicher Verfahren zur Durchsetzung von Urheberrechten harmonisiert ist. Das ist nicht der Fall: Die VorratsdatenRL ist "eine klar abgegrenzte Spezialregelung [...], die von der allgemein geltenden Richtlinie 2002/58 [DatenschutzRL für elektronische Kommunikation] und insbesondere von deren Art. 15 Abs. 1 abweicht und an ihre Stelle tritt." Die Rechtsvorschriften des schwedischen Urheberrechtsgesetzes über die Auskunftspflicht bei Urheberrechtsverstößen "fallen somit nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2006/24."

Damit bleibt die VorratsdatenRL für die Beurteilung solcher zivilrechtlicher Auskunftsansprüche in Urheberrechtsstreitigkeiten ganz außer Betracht. Der EuGH lässt es aber nicht damit bewenden, sondern weist von sich aus noch in einer Art Zusammenfassung der Grundsätze aus den Promusicae und LSG-Entscheidungen auf die notwendigen Abwägungen hin, die für die Frage der Zulässigkeit der Auskunft Bedeutung haben können, und prüft dann im Ergebnis die schwedische Rechtsvorschrift an diesem Maßstab.(Abs. 51 bis 60):
58   Nach den fraglichen nationalen Rechtsvorschriften müssen, damit eine Weitergabe der betreffenden Daten angeordnet werden kann, insbesondere klare Beweise für die Verletzung des Urheberrechts an einem Werk vorliegen, die begehrten Auskünfte müssen geeignet sein, die Untersuchung der Urheberrechtsverletzung oder ‑beeinträchtigung zu erleichtern, und die Gründe für die Anordnung müssen die Unannehmlichkeiten oder anderen Nachteile aufwiegen, die die Maßnahme für denjenigen, gegen den sie sich richtet, oder für andere entgegenstehende Interessen mit sich bringt.
59   Diese Rechtsvorschriften ermöglichen es somit dem nationalen Gericht, bei dem eine klagebefugte Person beantragt hat, die Weitergabe personenbezogener Daten anzuordnen, anhand der Umstände des Einzelfalls und unter gebührender Berücksichtigung der sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebenden Erfordernisse eine Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen vorzunehmen.
60   In dieser Situation sind derartige Rechtsvorschriften als grundsätzlich geeignet anzusehen, um ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Schutz des dem Urheberrechtsinhaber zustehenden Rechts des geistigen Eigentums und dem Schutz personenbezogener Daten, den ein Internetteilnehmer oder ‑nutzer genießt, sicherzustellen.
Der EuGH macht damit jedenfalls neuerlich klar, dass Auskunftspflichten einer Einzelfallüberprüfung - unter Abwägung der betroffenen Interessen - zu unterziehen und am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen sind.

PS (update 22.04.2012): ein zweiter Versuch zu diesem Urteil hier.

Sunday, April 15, 2012

Off topic: Käs-Law-Leseempfehlung, nicht nur für Krainer-Wu(rs)tbürger

Gelegentlich kann man dem EU-Amtsblatt auch Anregungen und Anleitungen zum Kochen entnehmen - Schwäbische Spätzle etwa, oder Pizza Napoletana - oder man kann erfahren, dass ein "pilzähnlicher, an eine natürliche Höhle erinnernder Geschmack" typisch für Queso Camerano ist (übrigens ein "Ergebnis einer ärmlichen und teilweise marginalen Wirtschaft"). Demnächst wird im Amtsblatt auch die Spezifikation für "Waterford Blaa" veröffentlicht werden (wer das jetzt schon nachkochen oder besser -backen will, muss bislang auf die hier verfügbare amtliche Spezifikation der irischen Regierung ausweichen - ob sich die Blaa-Alm jetzt Sorgen machen muss?). All das ist das Ergebnis der Verordnung (EG) Nr. 510/2006 des Rates vom 20. März 2006 zum Schutz von geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, die auch Grundlage für den aktuell in Österreich (und vor allem in "Österreich") heiß diskutierten slowenischen Antrag auf Eintragung der "Kranjska klobasa" (Krainer Wurst) in das Verzeichnis der Lebensmittel mit geschützter geografischer Angabe ist (die offizielle slowenische Spezifikation enthält auch das Rezept, siehe links oben).

Für Einwendungen gegen die beantragte Eintragung sieht die Verordnung ein klares Verfahren vor, das einige Zeit in Anspruch nimmt. Das hindert den österreichischen Boulevard natürlich nicht, aus Angst um die Käsekrainer schon jetzt mit dem Hyperventilieren zu beginnen. Nach einer hysterischen Titel-Schlagzeile der Krone konnte auch "Österreich" nicht zurückstehen und erklärte gleich einmal, dass nicht einfach "Krieg" herrscht, sondern dass der Krieg um die Käsekrainer sogar noch eskaliert (wie berichtet "Österreich" eigentlich über ernsthafte kriegerische Auseinandersetzungen?). Wie Dieter Chmelar treffend kommentiert hat: ein echtes "Wurst-Käs-Szenario".

Den Nonsens eines "Österreich"-Artikels will ich hier nun wirklich nicht kommentieren; skurril ist allein schon, wie der Eindruck erweckt werden soll, dass der Antrag offenbar gerade eben eingelangt sein soll, obwohl er offiziell seit rund drei Jahren in der dafür bestehenden Datenbank zugänglich vermerkt ist (Einbringungsdatum: 24.03.2009!) und spätestens seit der Veröffentlichung im Amtsblatt am 18.02.2012 allgemein öffentlich bekannt war.

Aber die Krainer-Posse gibt immerhin Anlass zu einer Leseempfehlung: zu erinnern ist nämlich an den leading case (und leading Käs) des europäischen Rechts der Ursprungsbezeichnungen: das Urteil der Großen Kammer des EuGH im Streit um die Bezeichnung "Feta" (EuGH 25.10.2005 C-465/02 und C-466/02, Deutschland und Dänemark / Kommission). Das Urteil erging zwar noch zur Rechtslage vor der nun anzuwendenden Verordnung und betraf eine geschützte Ursprungsbezeichnung (für die Kranjska klobasa wird eine geschützte geografische Angabe beantragt), ist aber sicher das instruktivste und bekannteste Verfahren, das zu diesen Gütezeichen der landwirtschaftlichen Qualitätspolitik der EU geführt wurde. Besonders hinzuweisen ist aber weniger auf das Urteil als auf die Schlussanträge des Generalanwalts, des leider bereits verstorbenen M. Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer (der auch in vielen Telekom-Sachen Schlussanträge verfasste und zu dessen Tod ich hier gebloggt habe). Ein kleiner Auszug aus diesen Colomer-typisch weit ausholenden Schlussanträgen (Fußnoten weggelassen):
5. Der erste Hinweis auf eine Ursprungsbezeichnung findet sich in der Bibel, und zwar in der Schilderung der Errichtung des Tempels von Jerusalem, den König David dem Herrn versprochen hatte und für den Hiram, der König von Tyrus und Sidon, Zedern im Libanon im Auftrag von Salomon fällen ließ, dessen Palast sodann mit einer solchen Menge dieser Zedern erbaut wurde, dass er unter dem Namen „Libanonwaldhaus“ bekannt war. Er errichtete sodann vier Reihen von Säulen aus dem wertvollen Holz, mit dem er auch die Thronhalle austäfeln ließ, „die Gerichtshalle, um darin Recht zu sprechen“. [...] Klassische Autoren wie Herodot, Aristoteles oder Platon brachten die Wertschätzung der Griechen für die Bronze aus Korinth, den Marmor aus Phrygien und Paros, die Töpferkunst aus Athen, die Terrakottastatuetten aus Thisbe, die Parfums aus Arabien und die Weine aus Naxos, Rhodos und Korinth zum Ausdruck. Vergil erzählt in der Äneis, dass Helenos Äneas „kostbare Stück aus Gold und Elfenbein [und] reichliche Mengen von Silber, Kessel vom Heiligtume Dodonas“ schenkte und nennt unter den Geschenken von Andromache für Ascanius „mit Gold bestickte Gewänder, auch einen phrygischen Mantel“. Horaz hat sein Werk durch eine wirkliche Zusammenstellung römischer geografischer Angaben bereichert und vor Fälschungen gewarnt. [...]
10. Unterdessen enthielten die europäische Literatur und Kultur weiterhin zahlreiche Hinweise auf den Ursprung bestimmter Erzeugnisse, durch die deren bewährte Qualität und Besonderheiten hervorgehoben werden sollten. Cervantes erwähnt in Don Quichotte die Spindeln von Guadarrama, bestimmte Lebensmittel wie die Kichererbsen aus Martos, die Frankoline aus Mailand, die Fasane aus Rom, das Kalbfleisch aus Sorrent, die Rebhühner aus Morón und die Gänse aus Lavajos sowie die neapoletanische Seife und bestimmte Stoffe wie das Tuch aus Cuenca und das „Límiste“ aus Segovia. Lope de Vega rühmt einen französischen Mantel und erwähnt das Tuch aus Cuenca und die Teller aus Talavera. Shakespeare spricht in Hamlet, Prinz von Dänemark, von den Zügen Rheinweins, mit denen der König einen Trunk ausbringt, und berichtet, wie Claudio und Laertes sechs Berberhengste gegen sechs französische Degen wetten. Proust berichtet, wie alle Gäste eine Nachspeise lobten und meinten, man müsse dazu ein paar Flaschen Portwein öffnen, und schildert das Treffen des Erzählers mit der Gräfin von Guermantes, die in ein Kleid aus grauem Crêpe de Chine gehüllt war, in dem Hotel in Baalbek, und Carpentier, der der europäischen Kultur auf dem amerikanischen Kontinent vertrauenswürdig Ausdruck verleiht, schreibt über Bordeauxwein, italienische Strohhüte, französische und italienische Puppen und schottischen Whisky.
Sollte der Streit um die Kranska klobasa jemals den EuGH erreichen, so hoffe ich natürlich auf ähnlich literaturkundige Generalanwälte. Zwei kleine Tipps vorweg: Peter Kern erwähnte in einem Text für DATUM  eine "Bombe in Form einer Käsekrainer" und in einem Dramolett von Bernd Weber in Memoriam Thomas Bernhard, unter dem bezeichnenden Titel "Alles ist grauslich", verschluckt sich Claus Peymann an einer Käsekrainer. Die jeweilige Herkunft der Wurstwaren lassen die Autoren leider im Dunkel.
Update 06.02.2015: Vor den EuGH wird die "Käsekrainer"-Frage wohl nicht kommen, denn Östereich und Deutschland haben sich mit Slowenien geeinigt (keine Einigung gab es zwischen Slowenien und Kroatien, aber die deutsche Bezeichnung "Krainer" oder "Käsekrainer" ist den Kroaten egal); die entsprechende Verordnung wurde im EU-Amtsblatt L 3 vom 07.01.2015, Seite 39, kundgemacht.

PS: es gibt übrigens noch einen Beitrag in diesem Blog, der sich ganz off topic mit "food law" beschäftigt: Streuselkuchen und Grundrechte

Thursday, April 12, 2012

EGMR: Redaktionsdurchsuchung und Quellenschutz - und zur Bedeutung journalistischer Ethik heute

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat heute im Fall Martin und andere gegen Frankreich (Appl. no. 30002/08) die Durchsuchung von Redaktionsräumen - mit dem Ziel der Ausforschung von Informanten, die sich eines Geheimnisbruchs schuldig gemacht haben könnten - und die dabei erfolgte Beschlagnahme journalistischer Unterlagen als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt (siehe auch die Pressemitteilung des EGMR. Das Urteil folgt im Wesentlichen der bestehenden Rechtsprechung zum Redaktionsgeheimnis bzw zum Schutz journalistischer Quellen (siehe dazu auch das einschlägige fact sheet des EGMR), enthält aber auch - eher überraschend und nicht erkennbar durch konkrete Umstände des Einzelfalls motiviert - eine grundsätzliche Anmerkung zur Bedeutung journalistischer Ethik.

Zum Sachverhalt
Die Beschwerdeführer, Journalisten des Midi Libre, hatten Artikel über einen vorläufigen Bericht des regionalen Rechnungshofes (Chambre régionale des comptes) zur Regionalverwaltung veröffentlicht und darin ausführlich auch aus diesem - vertraulichen - Bericht zitiert. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass es sich um einen vorläufigen Bericht handle, der nach den Stellungnahmen der Betroffenen noch geändert werden könnte. Der Präsident der Regionalverwaltung (und Senator) brachte Strafanzeige mit Privatbeteiligtenanschluss wegen Verletzung einer beruflichen Verschwiegenheitspflicht und "recel de violation du secret professionel" (worunter in etwa die Verwertung einer Verletzung eines Berufsgeheimnisses zu verstehen ist; "recel" ist eigentlich Hehlerei) ein.

Um festzustellen, unter welchen Bedingungen und Umständen die Journalisten die Informationen erhalten hatten, ordnete der Untersuchungsrichter eine Durchsuchung der Räume des Midi Libre unter Beiziehung eines IT-Sachverständigen an. Bei der Hausdurchsuchung wurden unter anderem eine Kopie des Rechnungshof-Berichts, ein Heft mit handschriftlichen Anmerkungen, ein zwölfseitiges Dokument mit Erläuterungen zum Regionalbudget und ein Ordner mit Dokumenten zum Budget beschlagnahmt und versiegelt. Außerdem wurden Kopien von Festplatten der Computer der Journalisten gemacht; die Auswertung der Festplatten zeigte "Spuren des Rechnungshofberichts" ("traces du rapport de la C.R.C.") auf den Rechnern von zwei der Beschwerdeführer.

Die Untersuchung ergab, dass Kopien des gesamten Berichts nur an den Präsidenten und an den früheren Präsidenten der Regionalverwaltung gesandt worden waren; dennoch war die Feststellung, dass das beschlagnahmte Exemplar des Berichts von einer dieser beiden Kopien herkam, nicht möglich. Auszüge des Berichts waren auch an 66 andere Betroffene versandt worden.

Dennoch wurde Anklage erhoben. Vor dem Untersuchungsrichter beriefen sich die Journalisten auf den Quellenschutz (Redaktionsgeheimnis). Sie beantragten - unter Berufung auf Art 10 EMRK - die Nichtigerklärung der Durchsuchung und Beschlagnahme sowie aller folgenden Akte (insbesondere der Anklage). Dieses Begehren wurde von der Ermittlungskammer des Berufungsgerichts abgelehnt, unter anderem mit der Begründung, dass der Grundsatz des Schutzes journalistischer Quellen die Untersuchung und Feststellung des Sachverhalts in Strafsachen nicht hindern sollte; die Untersuchung könne auch Durchsuchungen und Beschlagnahmen in Geschäftsräumen der Presse beinhalten. Die gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittel wurden vom Kassationsgerichtshof verworfen: Die Durchsuchung habe der Strafprozessordnung entsprochen, sei notwendig und verhältnismäßig gewesen und habe legitimen Zielen gedient, nämlich dem Schutz der Rechte anderer, insbesondere der Unschuldsvermutung, sowie dem Schutz vertraulicher Informationen sowie der Notwendigkeit, sich gegen Machenschaften, die die Feststellung der Wahrheit hindern, zu schützen ("la nécessité de se prémunir contre des agissements de nature à entraver la manifestation de la vérité"). 

Das gegen die Journalisten geführte Strafverfahren wurde in der Folge eingestellt; es habe nicht festgestellt werden können, dass eine Verletzung des Berufsgeheimnisses vorliege (der Bericht sei nach der anzuwendenden französischen Rechtslage nicht erga omnes vertraulich) und die Journalisten seien nicht durch eine berufliche Verschwiegenheitspflicht gebunden gewesen.

Allgemeine Grundsätze - Bedeutung journalistischer Ethik
Nach dem üblichen Aufbau der Urteile des EGMR legt der Gerichtshof zu Beginn seiner rechtlichen Beurteilung die allgemeinen Grundsätze dar (Absätze 58-67 des Urteils), bevor er sie auf den konkreten Fall anwendet (Abs. 68-89). Unter den allgemeinen Grundsätzen (Bedeutung der Freiheit der Meinungsäußerung und des Quellenschutzes, Rolle der Presse als Wachhund, aber auch die mit der Meinungsäußerungsfreiheit verbundenen Pflichten und Verantwortung) sticht hervor, dass der EGMR ausdrücklich die Bedeutung journalistischer Ethik in der heutigen Zeit hervorhebt.

Die Garantien, die Art 10 EMRK den Journalisten bietet - so betont der EGMR in Abs. 63 des Urteils - stehen unter der Bedingung, dass die dadurch Berechtigten redlich auf der Grundlage von exakten Tatsachen handeln und verlässliche und präzise Informationen unter Berücksichtigung der journalistischen Berufsethik liefern. Diese Überlegungen - so heißt es in Abs. 64 weiter - spielen eine besondere Rolle in der heutigen Zeit, angesichts der Macht der Medien in der modernen Gesellschaft, die nicht nur informieren, sondern zugleich - aufgrund der Art, wie die Informationen präsentiert werden - suggerieren, wie die Rezipienten die Informationen beurteilen sollen. In einer Welt, in der das Individuum mit einem unermesslichen Fluss an Informationen konfrontiert ist, die auf traditionellen oder elektronischen Kanälen zirkulieren und die von einer stets wachsenden Zahl von Autoren stammen, kommt der Kontrolle journalistischer Ethik gesteigerte Bedeutung zu. (Das ist jetzt nur schnell und grob übersetzt, ich empfehle natürlich die Lektüre des Originals, hier nur ein Auszug aus Abs. 64):
Dans un monde dans lequel l’individu est confronté à un immense flux d’informations, circulant sur des supports traditionnels ou électroniques et impliquant un nombre d’auteurs toujours croissant, le contrôle du respect de la déontologie journalistique revêt une importance accrue.
Anwendung der Grundsätze im konkreten Fall
Dass bereits die Durchsuchung - auch wenn es in der Folge zu keiner Verurteilung kam - einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt, entspricht der ständigen Rechtsprechung des EGMR (zuletzt Sanoma Uitgevers, dazu hier). Dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war, wurde nicht bestritten, und der Gerichtshof anerkennt - entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer - auch, dass der Eingriff einem legitimen Ziel (insbesondere dem Schutz der Unschuldsvermutung) diente. Damit geht es wie zumeist um die zentrale Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Zunächst hät der Gerichtshof dazu fest, dass die Veröffentlichungen die Verwaltung öffentlicher Gelder durch gewählte Lokalpolitiker und öffentlich Bedienstete und damit unzweifelhaft eine Angelegenheit allgemeinen Interesses für die örtliche Gemeinschaft betrafen. Die Journalisten hatten das Recht, darüber zu berichten und die Öffentlichkeit das Recht, darüber informiert zu werden (Abs. 79).

Dass der Bericht erst vorläufig war, ändert daran nichts: es ist gerade die Aufgabe investigativer Journalisten, die Öffentlichkeit über unerwünschte gesellschaftliche Phänomene ("des phénomènes indésirables dans la société") zu informieren und darauf aufmerksam zu machen, sobald sie über entsprechende Informationen verfügen. Wie die Journalisten in den Besitz der Informationen gekommen waren, ist eine Angelegenheit der Freiheit der Recherche, die der journalistischen Berufsausübung inhärent ist (siehe schon das Urteil der Großen Kammer im Fall Cumpănă und Mazăre gegen Rumänien, Abs. 96). Die Journalisten hatten deutlich darauf hingewiesen, dass es sich erst um einen vorläufigen Bericht handelte und damit die journalistische Ethik respektiert.

Zur Durchsuchung selbst hält der EGMR fest, dass diese erst mehr als acht Monate nach der Veröffentlichung erfolgt war. Die französische Regierung habe gegenüber dem EGMR nicht dargelegt, welche anderen Schritte unternommen worden seien, um den Bruch der Verschwiegenheitspflicht aufzuklären. Zudem waren auch die französischen Gerichte schließlich zum Ergebnis gekommen, dass die Verschwiegenheitspflicht nicht alle Adressaten des Berichts traf, und dass insbesondere auch die Journalisten diesbezüglich nicht an eine berufliche Verschwiegenheitspflicht gebunden waren.

Die Durchsuchung war nicht im Zuge der Untersuchung einer Straftat erfolgt, die von den Journalisten außerhalb ihrer Berufsausübung begangen worden wäre. Im Gegenteil: Ziel der Durchsuchung war die Ausforschung der möglichen Täter eines Geheimnisbruchs und der allfälligen Gesetzwidrigkeiten, die in der Folge von den Journalisten in Ausübung ihrer Funktion begangen worden sein könnten. Die Maßnahmen seien daher zweifelsfrei in den Bereich des Schutzes journalistischer Quellen gefallen.

Für den EGMR stellt sich die Frage, ob dem Untersuchungsrichter nicht andere Maßnahmen als die Durchsuchung zur Verfügung gestanden wären, um effektiv zu klären, ob eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht vorlag. Die Regierung habe jedenfalls nicht gezeigt, dass die nationalen Behörden ohne die Durchsuchung nicht in der Lage gewesen wären, die mögliche Verletzung einer Verschwiegenheitspflicht und die allfällige Anschlusstat (Verwertung der Ergebnisse des Geheimnisbruchs) zu untersuchen. Die Ermittlungskammer des Berufungsgerichts hatte sogar ausgeführt, dass es nicht notwendig sei, zunächst alle anderen Untersuchungsschritte zu unternehmen, und dass es alleinige Entscheidung des Ermittlungsrichters sei, ob mit einer Durchsuchung vorgegangen werden soll. Der EGMR schließt daraus, dass es keine Priorität der Ermittlungsrichter gewesen sei, vor der Durchsuchung andere Ermittlungsmaßnahmen zu setzen.

Der EGMR kommt daher zum Ergebnis, dass im konkreten Fall die Interessenabwägung zwischen dem Schutz journalistischer Quellen einerseits und dem Schutz vor und der Verfolgung von Straftaten andererseits nicht korrekt vorgenommen wurde. Die von den nationalen Gerichten dargelegten Gründe für die Durchsuchung seien zwar stichhaltig ("pertinent"), aber nicht hinreichend ("suffisant") gewesen. Da die Durchsuchung damit unverhältnismäßig war, wurde (einstimmig) eine Verletzung des Art 10 EMRK festgestellt.

Anmerkung:
Auch dieses Urteil des EGMR zeigt deutlich, dass der Schutz journalistischer Quellen nach Art 10 EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR nicht schrankenlos ist. Auch die Durchsuchung von Redaktionsräumen ist grundsätzlich zulässig, freilich erst als "letztes Mittel" und nach Abwägung der berührten Interessen. Selbst eine Durchsuchung zum Zweck des Ausforschens von Informanten, die sich mit ihrer Informationsweitergabe strafbar gemacht haben (und um zu klären, ob sich die Journalisten der unzulässigen Verwertung der durch Rechtsbruch des Informanten erlangten Informationen schuldig gemacht haben), wäre nach diesem Urteil nicht ausnahmslos mit Art 10 EMRK unvereinbar; allerdings müssen zunächst alle anderen möglichen Ermittlungsmaßnahmen gesetzt werden.

Thursday, April 05, 2012

EGMR zu französischem Mobilfunk-Kartell, geleakten Verfahrensakten und Unschuldsvermutung

Wenn ich in diesem Blog über Wettbewerbssachen im Telekom-Bereich schreibe, dann meist zu Urteilen des EuG oder EuGH (zuletzt etwa zu den Urteilen des EuG in den Telefónica-Fällen hier). Und wenn Entscheidungen des EGMR behandelt werden, dann in der Regel Mediensachen nach Art 10 EMRK, oft in Abwägung mit Art 8 EMRK (zuletzt zum Fall Kaperzyński hier).

Nun aber gibt es ausnahmsweise Gelegenheit, auch einmal über ein Telekomkartell vor dem Hintergrund einer dazu ergangenen EGMR-Entscheidung zu schreiben: Mit Entscheidung vom 13.03.2012, Société Bouygues Telecom gegen Frankreich (Appl. no. 2324/08), hat der EGMR nämlich eine auf Art 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) gestützte Beschwerde der Société Bouygues Telecom als offensichtlich unbegründet und damit unzulässig abgewiesen.

Bouygues, einer von damals drei französischen Mobilfunk-Betreibern, war mit Entscheidung der französischen Wettbewerbskommission vom 30.11.2005 zu einer Geldbuße von 58 Mio € verurteilt worden (Orange musste 256 Mio € bezahlen, SFR 220 Mio €; zur Entscheidung der Wettbewerbskommission siehe auch deren Presseaussendung). Im Wesentlichen wurden den Unternehmen strategischer Informationsaustausch (Monat für Monat waren detailierte Informationen zu Vertragssschlüssen und Kündigungen ausgetauscht worden) und Absprachen über einer Stabilisierung der Marktanteile vorgeworfen; unter anderem waren Aufzeichnungen über eine "Befriedung des Marktes" ("pacification du marché") oder ein "Jalta der Marktanteile" ("Yalta des parts de marché") gefunden worden.

Leaks und Unschuldsvermutung
Noch vor der Entscheidung der Wettbewerbskommission war der vertrauliche Untersuchungsbericht der DGCCRF (Direction Générale de la Concurrence, de la Consommation et de la Répression des Fraudes) geleakt worden; mehrere Zeitungen druckten Auszüge daraus ab (eine Zeitung erwartete zB "gesalzene Strafen"), auch Radio, TV und Online-Medien berichteten. Am Abend vor der Entscheidung der Wettbewerbskommission berichteten einige Zeitungen, dass die Unternehmen verurteilt würden und nannten auch schon die Geldbußen, die verhängt werden würden. Die Wettbewerbskommission veröffentlichte daraufhin eine Presseerklärung, dass es sich um reine Spekulationen der Journalisten handle, dass noch keine Entscheidung der Wettbewerbskommission gebe und dass die Betroffenen bis zur Verkündung der Entscheidung Anspruch auf die Respektierung der Unschuldsvermutung hätten. Wer den Bericht geleakt hatte, wurde trotz eingeleiteter Untersuchungen nie herausgefunden.

Die betroffenen Unternehmen erhoben Rechtsmittel, die nur teilweise erfolgreich waren; letztlich wurde die Entscheidung der Wettbewerbskommission im hier wesentlichen Umfang betreffend Bouygues auch vom Berufungsgericht und Kassationsgericht bestätigt (Links zu den Entscheidungen finden sich hier, unten).

Verletzung des Art 6 EMRK?
In der Beschwerde an den EGMR machte Bouygues drei Verstöße gegen Art 6 EMRK geltend:
  • Waffengleichheit: Bouygues sei im gerichtlichen Verfahren mehreren Anklägern gegenübergestanden, nämlich den Vertretern zweier Ministerien und auch der Wettbewerbskommission selbst, die ihre Entscheidung verteidigt habe.
  • Öffentlichkeit des Verfahrens: das Verfahren vor der Wettbewerbskommission sei nicht öffentlich gewesen, die Überprüfung durch das Berufungsgericht und den Kassationsgerichtshof sei nicht ausreichend, da diese keine Untersuchungsgewalt hätten.
  • Unschuldsvermutung: rund zwanzig Zeitungen hätten Bouygues schon vor der Entscheidung als schuldig hingestellt.
Zur Unschuldsvermutung betont der EGMR, dass die Berichterstattung differenziert war. Auch wenn die satirische Zeitschrift Le Canard Enchaîné die Schuld der Beschwerdeführerin als sicher hinstellte, war dies in anderen Zeitungen nicht der Fall. Global betrachtet ("globalement considérée") habe die Presse die Schuld der Beschwerdeführerin nicht als sicher hingestellt und der aufmerksame Leser konnte nicht im Irrtum über die Tatsache sein, dass noch keine Entscheidung vorlag. Der EGMR berücksichtigt auch den Umtand, dass von staatlicher Seite Schritte zur Wahrung der Unschludsvermutung gesetzt worden waren (Verständigung des Staatsanwaltes zur Untersuchung des "Leaks" und Presseerklärung mit Betonung der Unschuldsvermutung). Die Beschwerde wegen Verletzung der Unschuldsvermutung wurde daher als offensichtlich unbegründet angesehen.

Die Waffengleichheit hät der EGMR ebenfalls nicht für verletzt. Ausdrücklich hält er allerdings fest, dass er nicht darüber zu entscheiden habe, ob die unabhängige Verwaltungsbehörde als Vertreterin der Verfolgungsbehörde ("administration poursuivante") anzusehen sei. Die Beschwerdeführerin habe nicht dargelegt, dass die Vertreter der Ministerien und der Wettbewerbsbehörde in irgendeiner Weise im Verfahren privilegiert gewesen wären. Die Beschwerdeführerin habe auch zu jedem Vorbringen Stellung nehmen können. Es gebe daher keinen Anhaltspunkt, dass das Prinzip der Waffengleichkeit verletzt worden sei, auch nicht nach dem äußeren Anschein. Das gelte auch im Hinblick auf die Wettbewerbsbehörde; der Gerichtshof sei sich des Umstands bewusst, dass der Ansicht der Wettbewerbsbehörde besondere Autorität zukomme; es obliege aber dem Richter, die Bedeutung der Anmerkungen dieser Behörde unter Bedachtnahme auf deren technische Kompetenz und deren Willen, dass ihre Entscheidung nicht abgeändert werde, zu würdigen.

Zur Öffentlichkeit stellt der EGMR fest, dass das Fehlen einer öffentlichen Verhandlung vor der Wettbewerbskommission durch die doppelte gerichtliche Kontrolle durch das Berufungsgericht und den Kassationsgerichtshof kompensiert werde. Für die Wettbewerbskommission als unabhängige Verwaltungsbehörde sei anders als im normalen Strafverfahren keine mündliche Verhandlung in erster Instanz (und in der Berufungsinstanz) erforderlich. Das Berufungsgericht habe volle Kognition gehabt ("pleine juridiction") und in der Sache entscheiden können, es habe auch die Rechtsmittel detailliert geprüft. Die Beschwerdeführerin könne nicht entkräften, dass sowohl das Berufungsgericht als auch der Kassationsgerichtshof die streitige Entscheidung einer genauen und effektiven Kontrolle unterzogen hätten ("un examen minutieux et efficace").

Tuesday, April 03, 2012

EGMR: Berufsverbot für Journalisten wegen Nichtveröffentlichung einer Gegendarstellung ist unverhältnismäßig

Im Fall Kaperzyński gegen Polen (Appl. no 43206/07) hat der EGMR (Vierte Kammer) heute eine Verletzung des Art 10 EMRK wegen der Verurteilung eines polnischen Journalisten festgestellt:

Ausgangsfall
Przemysław Kaperzyński war Chefredakteur einer lokalen Wochenzeitung in Polen. Im Oktober 2005 veröffentlichte diese Zeitung einen - von Kaperzyński mitverfassten - Artikel über Probleme mit der örtlichen Kläranlage. Es bestünden bedeutende Gesundheitsrisken, Investitionen seien notwendig, die Stadt verfüge aber nicht über ausreichende Mittel und die Stadtverwaltung agiere langsam und sei inkompetent.

Der Bürgermeister der Stadt beschwerte sich in einem - teilweise ironischen - Brief über den Artikel. In diesem Brief zog er zwar in Zweifel, dass die Zeitung überhaupt Leser habe, verlangte aber dann doch eine Berichtigung im Sinne des polnischen Pressegesetzes. Der Chefredakteur reagierte auf den Brief nicht und veröffentlichte keine Berichtigung/Gegendarstellung.

Die Stadt erhob Privatanklage gegen den Chefredakteur. Im gerichtlichen Verfahren machte dieser im Wesentlichen geltend, dass es sich bei dem Brief nicht um eine Berichtigung im Sinne des Pressegesetzes gehandelt habe. Das Gericht verurteilte ihn zu einer - bedingt nachgesehenen - Freiheitsbeschränkung von 20 Stunden gemeinnützigem Dienst pro Monat über vier Monate. Darüber hinaus sprach das Gericht aus, dass er für zwei Jahre das Recht zur Berufausübung als Journalist verloren habe. Die - dem Beschwerdeführer zumutbaren - Rechtsmittel (dazu im Detail Abs. 34 - 40 des Urteils) blieben erfolglos, der Beschwerdeführer wandte sich an den EGMR.

EGMR-Urteil
Unstrittig war, dass die Verurteilung einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellte. Der Eingriff war zum damaligen Zeitpunkt gesetzlich vorgesehen (die Rechtsgrundlage wurde allerdings später vom polnischen Verfassungsgerichtshof aufgehoben) und diente einem legitimen Ziel, nämlich dem Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer.

Zur Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sei, hielt der EGMR zunächst fest, dass der Artikel einen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leistete, dass er keine unnötigen persönlichen Angriffe enthielt und nicht beleidigend war, und dass er auf einer soliden Tatsachengrundlage aufbaute (was vom polnischen Gericht nicht berücksichtigt worden war).

Die Verpflichtung, eine Berichtigung (Gegendarstellung) zu drucken, kann als solche nicht als exzessiv oder unverhältnismäßig beurteilt werden; das Gleiche gilt auch für die Verpflichtung, den Betroffenen zu informieren, wenn eine Berichtigung nicht abgedruckt wird:
66. The Court is of the view that a legal obligation to publish a rectification or a reply may be seen as a normal element of the legal framework governing the exercise of the freedom of expression by the print media. It cannot, as such, be regarded as excessive or unreasonable. Indeed, the Court has already held that the right of reply, as an important element of freedom of expression, falls within the scope of Article 10 of the Convention. This flows from the need not only to be able to contest untruthful information, but also to ensure a plurality of opinions, especially on matters of general interest such as literary and political debate [...]. Likewise, an obligation to inform the party concerned in writing about the reasons for a refusal to publish a reply or rectification is not, in the Court’s opinion, of itself open to criticism. Such an obligation makes it possible, for example, for the person who feels aggrieved by a press article to present his reply in a manner compatible with the editorial practice of the newspaper concerned. 
Da der Beschwerdeführer weder die Berichtigung gedruckt, noch den Betroffenen verständigt hat, dass sie nicht gedruckt wird, hat er auch nach Ansicht des EGMR seine Berufspflichten verletzt. Allerdings sei im Beschwerdefall auch die verhängte strafrechtliche Sanktion zu berücksichtigen. Ähnlich wie im Fall Wizerkaniuk gegen Polen (dazu hier) sei über den Beschwerdeführer wegen eines im Wesentlichen nur prozeduralen Vergehens, ohne Bezug zum Inhalt eines Artikels, eine strafrechtliche Sanktion verhängt worden. Unter den anzuwendenden Strafbestimmungen seien die polnischen Gerichte dabei daran gehindert gewesen, Fragen der Meinungsäußerungsfreiheit zu berücksichtigen. Die verhängte Strafe - zweijähriges Berufsausübungsverbot - sei zudem unverhältnismäßig:
74. The Court is of the view that a criminal sentence depriving a media professional of the right to exercise his or her profession must be seen as very harsh. Moreover, it heightens the above mentioned danger of creating a chilling effect on the exercise of public debate. Such a conviction imposed on a journalist can only be said to have, potentially, an enormous dissuasive effect for an open and unhindered public debate on matters of public interest [...].
Zudem habe auch der polnische Verfassungsgerichtshof (in einem späteren Urteil) erkannt, dass es die Bestimmungen des Pressegesetzes für Personen in der Situation des Beschwerdeführers schwer gemacht hätten, die Entscheidung zu treffen, ob eine Berichtigung zu veröffentlichen oder nicht. Einstimmig stellte der EGMR daher eine Verletzung des Art 10 EMRK fest.

Sondervotum Björgvinsson
In einem zustimmenden Sondervotum setzt sich Kammerpräsident Björgvinsson mit der Frage des Rechts der Stadt auf Berichtigung auseinander und kritisiert dabei insbesondere den oben wiedergegebenen Absatz 66. Auch wenn der Brief mit dem Begehren auf Berichtigung vom Bürgermeister geschrieben worden sei, so müsse er doch - da die Privatanklage von der Stadt erhoben wurde - nicht dem Bürgermeister persönlich, sondern der Stadt zugeschrieben werden. Diese habe aber als "public authority" kein Recht nach Art 10 EMRK:
I consider that the right to reply and the duty to publish the reply under Article 10 of the Convention must first and foremost be assessed in light of the fact that the municipality is a public authority, not in the light of the personal right of the mayor to defend his allegedly damaged reputation. In my view, this is a very important consideration in the context of the present case when viewing the compatibility of the right to reply and the duty to publish such a reply against the background of the right to freedom of expression under Article 10 of the Convention.
It is for this reason that I have reservations as to the relevance of the principles set out in paragraph 66 of the judgment, where the right to reply is accepted as a normal element of the legal framework governing the freedom of expression and as such falls within the scope of Article 10 of the Convention. By using this approach the majority implies that the municipality’s right to reply and the applicant’s duty to publish it has some basis in Article 10 of the Convention. I disagree. Clearly a public authority, like the municipality of Iława, cannot invoke rights under Article 10 of the Convention to impose on private parties a duty to publish a reply to criticism of its activities. It follows that recourse to national law for this purpose is contrary to Article 10 of the Convention and is another ground for finding a violation in the present case.

Forschungsgeheimnis, Informationsfreiheit und Privatsphäre: Große Kammer des EGMR zum Fall Gillberg

Das Forschungsgeheimnis könnte so etwas wie das Redaktionsgeheimnis der Wissenschaft sein: eine Möglichkeit (oder gar ein Recht?), vertrauliche Forschungsunterlagen vor dem Zugriff des Staates zu schützen, um - vor allem in der medizinischen Forschung - sensible Daten, die unter Zusicherung der Verschwiegenheit gesammelt wurden, nicht zB den Strafverfolgungsbehörden preisgeben zu müssen.

Der heute von der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entschiedene Fall Gillberg gegen Schweden (Appl. no 41723/06) wurde von den Vertretern des Beschwerdeführers denn auch auf diese Frage zugespitzt: darf man einen Psychiatrie-Professor, der den Eltern der von ihm in einer Langzeitstudie beforschten Kinder absolute Vertraulichkeit der Daten zugesichert hatte, strafrechtlich verurteilen, weil er die Studienunterlagen vernichtet hat, um die Herausgabe zu verhindern? Der Streit wurde wacker geführt (wer Zeit und Interesse hat, kann sich die Aufzeichung der mündlichen Verhandlung ansehen), aber er ging am Kern der Sache vorbei: auch die Große Kammer konnte sich - wie zuvor schon die Dritte Kammer in ihrem Urteil vom 02.11.2010 - nämlich im Wesentlichen darauf zurückziehen, dass der die Unterlagen betreffende Herausgabeanspruch gar nicht mehr Gegenstand des Verfahrens war, sondern es "nur" mehr um die Verurteilung von Prof. Gillberg wegen Amtsmissbrauchs für das Zerstören der Unterlagen ging.

Zum Sachverhalt:
An der Universität Göteborg wurde von 1977 bis 1992 eine Studie zu ADHD/DAMP durchgeführt. Christopher Gillberg, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie, war an diesem Forschungsvorhaben zunächst beteiligt, später übernahm er die wissenschaftliche Verantwortung für die Forschung. Er sicherte den Probanden bzw dessen Eltern absolute Vertraulichkeit ihrer Daten zu. Zwei Kritiker der Forschungen (K. und E.) verlangten im Jahr 2002 von der Universität Zugang zu den Originaldaten (umfangreiche Aufzeichnungen, Testergebnisse, Fragebögen und Ton- und Videobänder), was ihnen auf der Grundlage des schwedischen Sekretesslagen (Geheimnisgesetz) durch eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung gewährt wurde. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel der Universität blieben erfolglos (in Folgeverfahren wurde dann noch über Details des Zugangs gestritten); auch Prof . Gillberg erhob ein Rechtsmittel, das aber mangels Parteistellung zurückgewiesen wurde.

Der Beschwerdeführer weigerte sich dennoch, entgegen einer ausdrücklichen Anordnung des Vizekanzlers der Universität, die Daten entsprechend den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen herauszugeben. Schließlich wurden die Originalunterlagen von drei Kollegen des Beschwerdeführers vernichtet. In der Folge kam es auf Antrag des parlamentarischen Ombudsmanns zu einem Strafverfahren u.a. gegen den Beschwerdeführer, in dem dieser wegen Amtsmissbrauch zu einer bedingten Strafe sowie einer Geldstrafe von etwa 4.000 € verurteilt wurde. Rechtsmittel dagegen blieben erfolglos.

Beschwerde an den EGMR
Prof. Gillberg wandte sich (erst) wegen dieser Verurteilung an den EGMR und machte eine Verletzung seiner Rechte auf Schutz des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) und auf freie Meinungsäußerung (Art 10 EMRK) geltend. Er berief sich dabei u.a. auf seine Verschwiegenheitspflicht, die - wie beim Quellenschutz für Journalisten - geschützt werden müsse. Schon die Dritte Kammer des EGMR hielt dem in ihrem Urteil vom 02.11.2010 entgegen, dass der Beschwerdeführer nicht wegen der Verletzung einer Zeugenpflicht verurteilt wurde, sondern wegen Amtsmissbrauch, und dass das Verfahren nicht mehr das Interesse des Beschwerdeführers am Schutz des Berufsgeheimnisses betraf, da dieser Punkt bereits durch die vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen erledigt war (immerhin zwei Richterinnen der Dritten Kammer erachteten in ihrer abweichenden Meinung allerdings die strafrechtliche Verurteilung als unverhältnismäßig und hätten darin eine Verletzung des Art 8 EMRK gesehen).

Große Kammer
Die Große Kammer kam nun einstimmig zum Ergebnis, dass weder Art 8 noch Art 10 EMRK auf den Fall anwendbar sind (siehe auch die Pressemitteilung des EGMR). Das Vorbringen des Beschwerdeführers, das sich gegen die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen richtete, war schon von der Kammer als verspätet und damit unzulässig beurteilt worden, sodass auch die Große Kammer darauf nicht mehr einzugehen hatte.

Zur Frage einer möglichen Verletzung des Art 8 EMRK nimmt die Große Kammer von Beginn weg sehr deutlich darauf Bedacht, den Sachverhalt klar abzugrenzen: "The Court recalls that the applicant was a public official researcher exercising public authority at a public institution, namely the University of Gothenburg. He was not the children’s doctor or psychiatrist and he did not represent the children or the parents." (Abs. 64, Hervorhebung hinzugefügt).

Eine Berufung auf Art 8 EMRK sei nicht möglich, um sich über den Verlust an Ansehen zu beklagen, der die vorhersehbare Folge einer strafgerichtlichen Verurteilung ist. Im konkreten Fall sei die Verurteilung auch nicht unvorhersehbar gewesen und sie habe keinen Bezug zum Privatleben des Beschwerdeführers, da es um einen Missbrauch seines öffentlichen Amts als Universitätslehrer ging. Dass der Beschwerdeführer - wie er vorgebracht hat - wegen des Strafverfahrens mindestens fünf Bücher nicht habe schreiben können(!), sei völlig unsubstantiiert; zudem seien derartige wirtschaftliche Konsequenzen eine vorhersehbare Folge des Begehens einer Straftat. Die Rechte des Beschwerdeführers nach Art 8 EMRK seien daher von seiner Verurteilung nicht berührt worden.

Zu Art 10 EMRK hält die Große Kammer fest, dass der Beschwerdeführer nicht an der Ausübung seines positiven Rechts auf Empfang und Weitergabe von Information verletzt worden sei. Zur negativen Informationsfreiheit gäbe es nur spärliche Rechtsprechung; verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission im Fall Strohal gegen Österreich vom 7.4.1994 (no. 20871/92), in der wiederum Bezug auf den Bericht der Europäischen Menschenrechtskommission im Fall K. gegen Österreich vom 13.10.1992 (16002/90) Bezug genommen wird ("In this respect, the Commission recalls that the right to freedom of expression by implication also guarantees a "negative right" not to be compelled to express oneself, i.e. to remain silent [see K. v. Austria, Comm. Report 13.10.92, para. 45, loc. cit.]."). Andererseits habe der EGMR im Fall Ezelin gegen Frankreich ausgesprochen, dass eine Aussageverweigerung als solche nicht in den Anwendungsbereich von Art 10 (oder Art 11) EMRK falle.

Eine endgültige Antwort gibt der EGMR auch heute nicht, aber er schließt jedenfalls nicht aus, dass ein negatives Recht auf Äußerungsfreiheit unter Art 10 EMRK geschützt sein kann (Abs. 86). Im konkreten Fall sei zu berücksichtigen, dass das Material der Universität gehört habe und dort aufbewahrt worden sei. Es habe sich daher um öffentliche Dokumente gehandelt, die (nach schwedischem Recht) dem Grundsatz auf "public access" unterlegen seien. Demnach sei es auch unmöglich gewesen, im Vorhinein Vereinbarungen mit Dritten zu schließen, wonach bestimmte öffentliche Dokumente vom Recht auf Dokumentenzugang ausgeschlossen würden. Dennoch habe Prof. Gillberg (mehrfach) solche Vertraulichkeit zugesichert und sei damit über das nach schwedischem Recht Zulässige hinausgegangen. Solche Zusagen könnten aber nicht Vorrang vor dem Gesetz beanspruchen. Die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen hätten zudem ein- für allemal die Frage erledigt, ob und unter welchen Bedingungen die Dokumente K. und E. zugänglich zu machen waren.

Ein Berufsgeheimnis als Mediziner - auch nach der "Helsinki Declaration" der World Medical Association - kam nicht in Betracht, da Prof. Gillberg nicht von den Teilnehmern der Studie beauftragt worden sei und auch nicht deren Arzt oder Psychiater gewesen sei. Prof. Gillberg sei daher durch keine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht und durch keine Anordnung seines Dienstgebers daran gehindert gewesen, den verwaltungsgerichtlichen Urteilen nachzukommen. Die Weigerung, das Forschungsmaterial herauszugeben, sei nur durch seine persönliche Anschauung begründet gewesen, dass die verwaltungsgerichtlichen Urteile falsch wären (Abs. 91).

Die entscheidende Frage sei daher, ob der Beschwerdeführer als öffentlich Bediensteter ein unabhängiges negatives Recht im Sinne des Art 10 EMRK gehabt habe, Forschungsmaterial nicht zugänglich zu machen, obwohl dieses Material nicht ihm, sondern seinem öffentlichen Dienstgeber gehörte und dieser den verwaltungsgerichtlichen Urteilen habe nachkommen wollen (aber daran durch das Verhalten des Bescherdeführers gehindert war). Diese Frage wird vom EGMR klar verneint, mit einem bemerkenswerten Hinweis auf entgegenstehende Konventionsrechte:
93. In the Court’s view, finding that the applicant had such a right under Article 10 of the Convention would run counter to the property rights of the University of Gothenburg. It would also impinge on K’s and E’s rights under Article 10, as granted by the Administrative Court of Appeal, to receive information in the form of access to the public documents concerned, and on their rights under Article 6 to have the final judgments of the Administrative Court of Appeal implemented [...]
94. Accordingly, the Court cannot endorse the applicant’s view that he had a “negative” right within the meaning of Article 10 to refuse to make the research material belonging to his public employer available, thereby denying K and E their right to access to it as determined by the Administrative Court of Appeal.
Schließlich befasst sich die Große Kammer eher knapp mit dem vom Beschwerdeführer nachdrücklich vorgebrachten Argument, seine Situation sei der eines Journalisten vergleichbar, der sich auf das Redaktionsgeheimnis berufen könne. Dazu hält der Gerichtshof fest, dass die einschlägige Rechtsprechung das positive Recht der Journalisten auf freie Meinungsäußerung betreffe. Zudem sei beim Redaktionsgeheimnis die Information in der Regel im Eigentum des Journalisten oder des Mediums, während es im Beschwerdefall um öffentliche Dokumente der Universität gehe:
The disputed research material was therefore subject to the principle of public access to official documents under the Freedom of the Press Act and the Secrecy Act, which specifically allowed for the public, and the media, to exercise control over the State, the municipalities and other parts of the public sector, and which in turn contributed to the free exchange of opinions and ideas and to the efficient and correct administration of public affairs. By contrast, the applicant’s refusal in the present case to comply with the judgments of the Administrative Court of Appeal, by denying K and E access to the research material, hindered the free exchange of opinions and ideas on the research in question, notably on the evidence and methods used by the researchers in reaching their conclusions, which constituted the main subject of K’s and E’s interest. In these circumstances the Court finds that the applicant’s situation cannot be compared to that of journalists protecting their sources.
Schließlich sei die Situation des Beschwerdeführers auch nicht mit der eines Anwalts vergleichbar, der sich auf die Vertraulichkeit der ihm von seinem Mandanten anvertrauten Information berufen könne. Auch hier verweist der EGMR darauf, dass kein Klientenverhältnis und daher auch keine ärztliche Verschwiegenheitspflicht vorlag, und dass der Beschwerdeführer außerdem nie zu einer Aussage verhalten worden war. Zusammenfassend kam der EGMR daher zum Ergebnis, dass auch die Rechte des Beschwerdeführers nach Art 10 EMRK durch seine Verurteilung nicht berührt wurden.

Das Ende des Forschungsgeheimnisses?
Nicht erst seit sich die Große Kammer der Sache angenommen hat, wurde der Fall Gillberg als "leading case" für das heikle Verhältnis zwischen dem Anspruch auf Transparenz und Zugang zu Dokumenten öffentlicher Einrichtungen einerseits und dem Schutz des Forschungsgeheimnisses andererseits angesehen. Die konkrete Fallkonstellation macht es aber schwer, allzu weitreichende Aussagen aus dem Urteil abzuleiten. Die Große Kammer des EGMR hat jedenfalls deutlich gemacht, dass eine persönliche wissenschaftsethische Überzeugung, Daten von Probanden schützen zu müssen, nicht ausreicht, um rechtskräftige Gerichtsentscheidungen über Zugangsansprüche Dritter ignorieren zu können. Und auch die vom Beschwerdeführer erhoffte Anerkennung eines "Forschungsgeheimnisses" in Analogie zum Redaktionsgeheimnis hat der EGMR mit ziemlich klaren Worten abgelehnt.

Update (04.04.2012): in einem Beitrag auf Strasbourg Observers befassen sich Dirk Voorhoof und Rónán Ó Fathaigh vor allem mit der Frage, ob dieses Urteil ein durch Art 10 EMRK geschütztes Recht auf Zugang zu Informationen anerkennt; ihr Ergebnis: die Frage bleibt offen.
Eine Antwort des EGMR zur Frage, ob ein Recht auf Zugang zu staatlich gehaltenen Informationen nach Art 10 EMRK geschützt ist, erwarte ich übrigens im Fall Bubon gegen Russland (Appl. no 63898/09) - siehe das Statement of Facts zu diesem Fall.