Monday, July 18, 2011

Chilling me softly? Wird der News of the World-Skandal Max Mosley helfen, vor die große Kammer des EGMR zu kommen?

Die Aufarbeitung des Skandals rund um News International, den britischen Teil des Imperiums von Rupert Murdoch, wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen - sowohl als Kriminalfall rund um illegales Abhören und polizeiliche Korruption als auch als (medien)politisches Lehrstück, abgehandelt im britischen Parlament und im Rahmen einer Untersuchung durch Lord Justice Leveson zu "culture, practices and ethics of the press" (siehe zu all dem vor allem die Berichterstattung im Guardian, mit vielen weiteren Hinweisen). Schon heute aber kann man wohl sagen, dass dieser Skandal auch für das Medienrecht nicht ohne Auswirkungen bleiben wird.

Dabei geht es mir nicht um die im Vereinigten Königreich andiskutierten Änderungen hin zu einer stärkeren Presseregulierung, zB durch Einführung einer Presse-Regulierungsbehörde (Stichwort "Ofpress" oder "Ofmedia", etwa nach dem Vorbild der Rundfunkregulierungsbehörde Ofcom; ich empfehle dazu Kevin Marsh und Inforrm's Blog zu lesen). Vielmehr interessiert mich aus der europäischen Perspektive eher die Frage, ob und wie sich das Verhalten von News of the World und anderer britischer Tabloids auf die Beurteilung von Beschränkungen der Pressefreiheit durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auswirken könnte.

Der EGMR hat in zahlreichen Fällen nationale Regelungen oder Entscheidungen wegen ihres abschreckenden Effekts (chilling effect) auf die Ausübung des journalistischen Berufs als unzulässigen Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK beurteilt (zuletzt etwa im Fall Wizerkaniuk; siehe dazu hier). Zudem hat der EGMR manche von Beschwerdeführern verlangte positive Verpflichtungen zum Schutz insbesondere der Ehre oder der Privatsphäre unter Hinweis auf die abschreckende Wirkung, die solche Maßnahmen auf zulässige Meinungsäußerungen haben könnten, abgelehnt (aktuellstes Beispiel ist der Fall  Mosley; siehe dazu hier und hier).

Wünschenswerte Abkühleffekte?
Zumindest in (zustimmenden) Sondervoten wurde aber von EGMR-Richtern schon Kritik an dieser ablehnenden Haltung gegenüber "chilling effects" geäußert. So sprach sich etwa Richter Loucaides im Fall Lindon, Otchakovsky-Laurens and July gegen Frankreich (Appl. nos. 21279/02 und 36448/02) ausdrücklich für Regeln aus, die einen "chilling effect on irresponsible journalism" haben sollten. Jüngstes Beispiel ist wiederum der Fall Wizerkaniuk, in dem die Richter Garlicki und Vučinić nachdrücklich auf die Gefahren journalistischen Missbrauchs (journalistic abuse) hinwiesen. In der heutigen Welt könne die Presse nicht immer die Opferrolle für sich reklamieren, vielmehr unterminiere sie oft in böser Absicht die Integrität ander Personen. Dieser veränderten Situation, so Garlicki und Vučinić, müsse man sich stellen ("We have no alternative but to address this new situation"). Auch wenn dies nicht die Mehrheitsmeinungen waren, so scheint mir doch bemerkenswert, dass selbst EGMR-Richter "chilling effects" für journalistische Äußerungen keineswegs mehr zwingend und ohne Ausnahme als negativ beurteilen.

Im Fall Mosley hat die vierte Kammer des EGMR einstimmig zwar keine Verletzung des Art 8 EMRK festgestellt, aber doch ihr Unbehagen mit der Vorgangsweise der dort betroffenen Zeitung - nicht zufällig war das die "News of the World" - deutlich gemacht (wenngleich mit gewisser richterlicher Zurückhaltung: "the conduct of the newspaper in the applicant’s case is open to severe criticism."). Max Mosely hat die Verweisung seines Falles an die große Kammer beantragt; eine Entscheidung darüber ist noch nicht gefallen. In seinem Verweisungsantrag - gestellt am 24.5.2011, also noch vor den aktuellen Enthüllungen rund um News of the World - legt Mosley im Wesentlichen dar, weshalb die von der vierten Kammer des EGMR dargelegten Möglichkeiten, sich gegen Verletzungen der Privatsphäre durch die Presse zu wehren, seiner Ansicht nach nicht ausreichen.

Versagen der Selbstregulierung
Interessant dabei scheinen mir dabei aus heutiger Sicht insbesondere die Ausführungen zur Press Complaints Commission (PCC). Der EGMR hatte diese "Selbstregulierungseinrichtung" der britischen Presse und deren Regelwerk ja in seinem Urteil ausführlich dargestellt und schließlich (in Nr. 119 des Urteils) die Auffassung vertreten, dass auch die PCC - neben nachträglichen Schadenersatzansprüchen, einstweiligen Verfügungen und Ansprüchen nach Datenschutzvorschriften - ein Instrument sei, um den Schutz der in Art 8 EMRK garantierten Rechte zu sichern:
"The Court observes at the outset that this is not a case where there are no measures in place to ensure protection of Article 8 rights. A system of self-regulation of the press has been established in the United Kingdom, with guidance provided in the Editors’ Code and Codebook and oversight of journalists’ and editors’ conduct by the PCC [...]." 
Dass eine solche "oversight" (Aufsicht) über das Verhalten von Journalisten durch die PCC jedoch tatsächlich nicht bestand oder zumindest völlig wirkungslos war, hat sich im News of the World-Skandal eindrucksvoll gezeigt. Dementsprechend ist die Press Complaints Commission mittlerweile am Implodieren und ihr Überleben auch in reformierter Form höchst zweifelhaft. Wer zB das BBC-Interview mit der PCC-Vorsitzenden Baroness Buscombe vom 5.7.2011 gesehen hat (mein Lieblingssatz daraus: "We are doing all we can: we set up a review"), wird jedenfalls kaum ernsthaft behaupten können, dass die PCC irgendetwas zum Schutz vor den Auswüchsen des Boulevardjournalismus - wie sie zB im Fall Mosley offenbar wurden - hätte beitragen können.

Kommt Mosley vor die große Kammer? [Update: die Antwort ist nein*]
Im Fall Mosley haben nun zunächst fünf Richter der Großen Kammer darüber zu entscheiden, ob der Verweisungsantrag angenommen wird, was nach Art 43 EMRK in Ausnahmefällen möglich ist, "wenn die Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung der Konvention" oder "eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft". Prima facie hätte ich den Fall Mosley nicht als solchen Ausnahmefall gesehen: Das Urteil der vierten Kammer war einstimmig und meines Erachtens eindeutig; ich kann mir schwer vorstellen, dass im Fall der Verweisung an die Große Kammer im Ergebnis etwas anderes herauskäme, nicht zuletzt da die von Mosley gewünschte Vorverständigungspflicht alles anderer als comon consensus unter den Konventionsstaaten ist ("In so far as any common consensus can be identified, it therefore appears that such consensus is against a pre-notification requirement rather than in favour of it." Kammerurteil Mosley, Nr. 124).

Nach dem Aufbrechen des News International-Skandals scheint es mir aber nicht mehr ausgeschlossen, dass der EGMR die Frage nach dem Schutz der Privatsphäre - im Verweisungsantrag ausdrücklich beschränkt auf "intimate or sexual details" - vor allzu aufdringlichem Schmuddeljournalismus à la News of the World vielleicht doch als "schwerwiegende Frage allgemeiner Bedeutung" beurteilen und die Verweisung zulassen könnte. Der Bespitzelungs- und Bestechungsskandal rund um News International und dessen politische Folgewirkungen hat die Behauptung Mosleys in seinem Verweisungsantrag, es handle sich um "issues of very considerable general importance, especially in the United Kingdom where certain sections of the press, such as The News of the World, trade in the disclosure of intimate or sexual secrets of people's private lives", zumindest nicht unglaubwürdiger gemacht.

Soft Chill für Krawalljournalismus?
Sollte sich die Große Kammer der Sache annehmen, so würde ich, wie bereits gesagt, kein anderes Endergebnis erwarten, wohl aber grundsätzliche und deutliche Kritik am Schmuddeljournalismus nicht nur der Murdoch-Presse. Ein einschränkendes Verständnis der Reichweite der Pressefreiheit für den Boulevardjournalismus hat schon das Kammerurteil - unter Verweis auf Vorjudikatur - dargelegt:
"The Court also reiterates that there is a distinction to be drawn between reporting facts – even if controversial – capable of contributing to a debate of general public interest in a democratic society, and making tawdry allegations about an individual’s private life [...]. In respect of the former, the pre-eminent role of the press in a democracy and its duty to act as a 'public watchdog' are important considerations in favour of a narrow construction of any limitations on freedom of expression. However, different considerations apply to press reports concentrating on sensational and, at times, lurid news, intended to titillate and entertain, which are aimed at satisfying the curiosity of a particular readership regarding aspects of a person’s strictly private life [...]. Such reporting does not attract the robust protection of Article 10 afforded to the press. As a consequence, in such cases, freedom of expression requires a more narrow interpretation [...]." [Hervorhebung hinzugefügt]
Man könnte das auch dahin verstehen, dass ein"chilling effect on irresponsible journalism" (so Richter Loucaides im Fall Lindon ua) zulässig sein sollte.

Selbst wenn die Große Kammer den Fall Mosley nicht annehmen sollte, könnte es angesichts der immer deutlicher zu Tage tretenden zweifelhaften bis kriminellen Praktiken von Krawallblättern à la News of the World nur mehr eine Frage der Zeit sein, bis eine Mehrheit im EGMR ausdrücklich Gefallen zumindest an einem "soft chill" für solchen Schmuddeljournalismus findet. Die wirklich spannende und kritische Frage ist dann, ob und wie die Abgrenzung zu jenem Journalismus gezogen werden kann, dem der "robuste Schutz" des Art 10 EMRK ungeschmälert zukommt. Gerade das Sondervotum der Richter Garlicki und Vučinić im Fall Wizerkaniuk (siehe dazu hier) - einem Fall, der sachverhaltmäßig keinerlei Anhaltspunkte für unzulässige oder unseriöse Praktiken der beteiligten Journalisten erkennen lässt - zeigt ein tiefes und ganz allgemeines Misstrauen gegenüber dem aktuellen Zustand des Journalismus, vor dessen Hintergrund sie letztlich auch ganz allgemeine Einschränkungen für journalistische Arbeit (im konkreten Fall eine vorgängige Pflicht, Interviews autorisieren zu lassen!) als gerechtfertigt ansehen würden. "Chilling effects on irresponsible journalism" könnten so aber auch "abkühlende Wirkung" auf verantwortungsvollen Journalismus haben.

PS (update 28.08.2011): der Standard hat mich gebeten, auf der Grundlage dieses Blogposts einen (etwas weniger juristischen) Kommentar der anderen zu schreiben - erschienen am 23.07.2011.

*Update 07.10.2011: das Urteil ist endgültig, die beantragte Verweisung an die Große Kammer wurde abgelehnt, siehe dazu den Beitrag auf Inforrm's Blog

3 comments :

Geldbeutel said...
This comment has been removed by the author.
Simon Möller said...

Kommentar von mir auf Telemedicus:

http://www.telemedicus.info/article/2044-Soft-chilling-und-positive-Wirkung-von-chiling-effects.html

ElGraf said...

Im letzten Absatz unter
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/prinz-harry-britische-presse-verzichtet-auf-nacktbilder-a-851699.html
spekuliert man exakt über den hier prophezeiten Effekt.