Sunday, June 19, 2011

"Health Nazi" geht zu weit: aggressive Interviews und Art 10 EMRK

Im englischen Sprachgebrauch muss der Begriff "Nazi" nicht immer auf einen Nationalsozialisten im engeren historischen Sinn hinweisen, manchmal soll damit auch schlicht jemand bezeichnet werden, der anderen seine Meinungen aufzwingt ("one who imposes his views on others", so der England and Wales High Court in [2010] EWHC 1756 (QB)). Als Hörfunk-Interviewer sollte man dennoch auch in England seinen Interviewpartner, selbst wenn dieser als Stadtrat Rauchern keine Pflegekinder mehr anvertrauen will, nicht unbedingt als "health Nazi", "health fascist", einfach nur "Nazi" oder schließlich "ignorant pig" und "ignorant idiot" bezeichnen, denn das kann von Ofcom als Verletzung des Broadcasting Code (Verstoß gegen das Verbot von "offensive language") beurteilt werden (Ofcom Broadcast Bulletin 133, Jon Gaunt, Talksport).

Jon Gaunt, der dieses bemerkenswerte Interview geführt hatte, war allerdings der Auffassung, dass sein Verhalten (für das er sich später entschuldigt hatte) durch das Recht auf freie Meinungsäußerung im Sinne des Art 10 EMRK geschützt sei, und er bekämpfte die Entscheidung von Ofcom - die nur die Verletzung des Broadcasting Code durch den Hörfunkveranstalter feststellte - beim High Court. Im Urteil wurde das Interview so beschrieben:
"It is scarcely possible to convey the general and particular tone of this interview in a short written summary, and the full transcript is in this respect incomplete. You have to hear it for its full impact. As we have said, it degenerated into a shouting match from the point when [Mr Gaunt] first called Mr Stark 'a Nazi'. That first insult was not said with particular vehemence, but 'you ignorant pig' was said with considerable venom and was we think gratuitously offensive. The interview as a whole can fairly be described as a rant." 
Nachdem er beim High Court verloren hatte, wollte Jon Gaunt es auch noch vom Court of Appeals wissen, aber auch dieser gab ihm mit Urteil vom vergangenen Freitag, [2011] EWCA Civ 692, nicht recht. Der Court of Appeals - das Urteil schrieb Lord Neuberger, Master of the Rolls - setzte sich eingehend mit der Rechtsprechung des EGMR auseinander und betonte die notwendige Gesamtbetrachtung, nach der schließlich keine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung gegeben sei:
"the interview must be considered as a whole and in its context, as both Ofcom and the Divisional Court said. It would be wrong to focus too hard individually, let alone exclusively, on (i) Mr Gaunt's specific insults, such as 'health Nazi' or 'ignorant pig', (ii) his hectoring tone and bullying manner, (iii) his persistent interruptions, (iv) his failure to let Mr Stark develop any argument or even answer the points made by Mr Gaunt, including telling Mr Stark to 'shut up', or (v) his treating more than one innocuous comment by Mr Stark as an insult. All these points must be considered together, together with the fact that the interview was permitted to run on for many minutes after it had become clear that it had got out of hand. [...]
In my view, the combination of the five points [...] render it impossible to accept the contention that the publication of the Finding, which contained no sanction, other than the stigma of the publication of an adverse finding by the statutory regulator, represented an interference with Mr Gaunt's right to freedom of expression under Article 10." 
Ob Jon Gaunt vielleicht noch bis zum EGMR weiter um das Recht kämpfen will, seinen Interviewpartner einen Nazi zu nennen? Ich würde das zwar als ziemlich aussichtslos einschätzen, aber aus didaktischen Gründen hätte eine (Nichtzulassungs-)Entscheidung des EGMR einen gewissen Reiz: man könnte dann den Fall Gaunt dem Fall Oberschlick Nr. 2 gegenüberstellen und die Unterschiede herausarbeiten. Oberschlick schrieb: "Ich werde Jörg Haider erstens keinen Nazi nennen, sondern zweitens einen Trottel"; die deswegen erfolgte Verurteilung wurde vom EGMR als Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung beurteilt. Gaunt nannte seinen Interviewpartner erstens einen "Nazi", zweitens einen Trottel ("idiot"), und drittens ein dummes Schwein ("ignorant pig"), und anders als Oberschlick dürfte Gaunt wohl kaum eine nachvollziehbare Begründung und eine ausreichende Tatsachengrundlage für seine Beleidigung darlegen können.
Update 29.09.2016: tatsächlich hat sich Gaunt an den EGMR gewandt, der mit seiner Entscheidung vom 06.09.2016, Gaunt gegen Vereinigtes Königreich (Appl. no. 26448/12) die Beschwerde als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen hat (und ja, Oberschlick Nr. 2 wird in dieser Entscheidung auch zitiert).

Der österreichische Paradefall in Sachen (angeblich) aggressiver Interviewführung ist das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 21.6.1989, B 1701/88 und B 1847/88 (VfSlg 12.086). Dort ging es um ein Interview, das Peter Rabl und Hans Benedict vom ORF mit Bundespräsident Waldheim führten - die aus heutiger Sicht völlig unspektakulären Fragen waren einigen Fernsehzusehern und auch der Rundfunkkommission zu hart und nicht objektiv genug. Der Verfassungsgerichtshof musste klarstellen, dass es in der Natur der Sache eines derartigen Interviews liegt, dass die Interviewenden in ihre Fragen und Aussagen in erster Linie bisher laut gewordene kritische Stimmen und Äußerungen miteinbeziehen und dass die Grenzen akzeptabler kritisch-provokativer Fragestellung in Bezug auf einen im öffentlichen Leben stehenden Politiker grundsätzlich weiter gezogen sind als in Bezug auf eine Privatperson.

1 comment :

Anonymous said...

For those who would like "to hear it for its full impact":
http://www.youtube.com/watch?v=zfW7AhaB9uE