Tuesday, July 06, 2010

L'esprit de Lorenz: "täglich ins Internet kotzen" - der ORF-Programmdirektor spricht über die Jugend (und das Gesetz)

Prof. Wolfgang Lorenz ist derzeit noch ORF-Programmdirektor Fernsehen. Dass ihm - seine Wortwahl - "scheißegal" ist, was die Jugend im - von ihm so genannten - "Scheißinternet" macht, hat er bekanntlich schon im Jahr 2008 mitgeteilt (siehe in diesem Blog dazu hier, weitere Links hier). Ganz so "scheißegal", wie er das damals auch behauptet hat, dürfte es ihm aber doch nicht sein, ob die Jugend [dem ORF] zuschaut oder nicht, sonst hätte er sich nicht vor kurzem - anlässlich der Eröffnung der Tage der deutschsprachigen Literatur (aka Bachmannpreis-Wettlesen) in Klagenfurt am 23. Juni 2010 - bitter über die dem ORF fernbleibende Jugend beklagt.

Die von Wolfgang Lorenz dargebrachten "Grußworte" - laut ORF eine "apokalyptisch zu nennende Rede" - sind ein gleichermaßen skurriles wie erschreckendes Zeitzeugnis, das glücklicherweise auf der Bachmannpreis-Website als Videodatei zugänglich ist ("Eröffnung der 34. Tage der deutschsprachigen Literatur", Wolfgang Lorenz spricht etwa ab Minute 28:00). Um dieses Zeitdokument auch im Text verfügbar zu machen, habe ich es transkribiert. Hier also die Rede von Wolfgang Lorenz im Wortlaut (ohne nachträgliche Redaktion; Satzzeichen und Absätze habe ich nach bestem Wissen und Gewissen eingefügt; die Hervorhebungen und Anmerkungen in eckiger Klammer sind von mir):
Ja, ich soll auch Grußworte sprechen, ich weiß aber nicht genau, von wem ich Sie grüßen lassen soll, ich kann Sie ja nicht grüßen, weil ich bin ja da, also das wär ja sinnlos; ich kann mich nur von Ihnen verabschieden, was ich übrigens demnächst auch wieder tun werde. Also nehme ich an, ich bin eingeladen, Sie von der Anstalt zu grüßen, der Rundfunkanstalt selbstverständlich, die irgendwann auch einmal Rundfunkgesellschaft geheißen hat [Anm: der ORF heißt weder Anstalt, noch ist er eine; als Gesellschaft mbH hat der ORF mit 15.10.1974 zu existieren aufgehört], das ist irgendwie aus der Mode gekommen, weil da drin kommt Gesellschaft vor und Gesellschaft gibt's ja bekanntlich nicht mehr, die ist ja abgeschafft worden, seitdem sich nur jeder um sich selbst kümmert, und wir können heute bestenfalls von einer Überlebensgesellschaft reden, aber nicht mehr von einer Lebensgemeinschaft. Das ist bedauerlich, aber einfach festzustellen.

Wir sind mit Politik konfrontiert, die sich Gesellschaft als die Summe der größtmöglichen Wählerschaft
vorstellt, und ich bekenne auch, dass die Rundfunkgesellschaft eine gewisse Sehnsucht hat nach einer Masse an Gebührenzahlern und Werbeeinnahmen, das heißt beides sind eigentlich keine wirklich guten gesellschaftlichen Vorstellungen. Warum ist das so? Uns fehlt ein wichtiger Teil von Gesellschaft, nämlich die p.t. Jugend, die auch hier immer so angefleht wird, sie möge doch endlich Lesen lernen, durch Zuschauen zumindest oder irgendwie; die fällt nämlich total aus, weil sie offensichtlich einerseits die Schnauze voll hat - das haben die Jungen eh immer gehabt, ich glaube ich nicht, aber insgesamt, und ich kann mich gar nicht mehr erinnern, weil ich schon so alt bin - und zweitens, weil die Jungen beschlossen haben, an uns [gemeint wahrscheinlich: am ORF oder dem Fernsehen allgemein] gar nicht mehr teilzunehmen, sondern lieber täglich ins Internet zu kotzen, und das noch anonym, weil da kann relativ wenig passieren und man fühlt sich aber richtig gut, weil man's dem Internet gesagt hat, und insofern hat irgendjemand offensichtlich das mit der Second World [vielleicht meint er Second Life?] zu ernst genommen, in dieser ist nämlich die Jugend wie bei H.G. Wells [War of the Worlds? Ich glaube, er verwechselt das eher mit Brave New World von Aldous Huxley; update 7.7.2010: siehe aber diesen Kommentar] in einer Untergesellschaft untergetaucht und lässt auch gar nicht mehr grüßen, weil sie dazu auch zu schlecht aufgelegt ist.

Das heißt, es hetzt uns auch niemand mehr, wer beißt schon heute wen in die Wade - ich mein: welcher Jugendliche, sonst ist Wadlbeißen natürlich immer noch angesagt - und wer macht uns darüber im Klaren, dass wir uns eigentlich in einem Zustand der Auflösung befinden, und ob die Kunst hilft oder nicht, das weiß ich nicht, ich glaube dran, aber ich glaub immer weniger dran, weil, auch wenn ich mir vorstelle, der Peter Turrini zum Beispiel hat in einer Kultursendung am Montag, selbstverständlich im ORF, gesagt: "Sprache ist stärker als Realität" - möglicherweise gibt's uns gar nicht mehr, es hat uns nur keiner gesagt, wär ja auch ein möglicher Schluss, und insofern bitte ich die Tage
[der deutschprachigen Literatur] möglichst lebendig zu gestalten und als Lebenszeichen, es gibt uns noch, auszusetzen.

Ich hätte auch einen Wunsch an die handelnden Personen, die Schriftsteller, die Juroren, alle miteinander: Fühlen Sie sich doch einmal richtig gut elitär, fühlen Sie sich doch richtig mal super als Rudelführer, man wird Sie brauchen, wenn Europa, wenn es so weitermacht, wieder in wilde Rudel zerfällt, dann werden die Alphatiere fehlen, und dann könnten die Künstler helfen, die Politiker mit Sicherheit nicht mehr, die haben schon bisher alles verschissen. Also insofern würde ich auch sagen, die 68er war'n wirklich leiwand, das war wunderbar, das war auch meine Generation, da war auch noch was los, es gibt Nachhaltigkeit, in mehrerer Hinsicht, aber etwas haben uns die 68er natürlich jetzt in der nächsten Generation beschert: Sie haben die Eliten mit abgeschafft, weil sie dem Irrtum unterlegen sind, dass Elite und Demokratie unverträglich seien. Jetzt haben wird den Salat und sehen was dabei herausgekommen ist, nämlich gar nix, die des gsogt hom san weg, und in der zweiten Welt untergetaucht, die Eliten sind weg, es herrscht ein ausgesprochen elitefeindliches Klima, in Österreich aber möglicherweise auch in Europa, und der Irrtum, dass Eliten und Demokratie unverschraubbar seien, ist ein fataler Zustand, den wir täglich erleben. Jede funktionierende Demokratie ist von Eliten angeführt worden, sonst müsste es ja auch keine Wahlen mehr geben und mir geht das Ganze schön langsam ziemlich auf die Nerven.

Zum Schluss erzähle ich Ihnen eine kleine Geschichte: Karl Löbl, der Kulturchef des ORF ist 80 geworden. Ich habe ihm dazu einen Brief geschrieben, wie sich das gehört, und eines Abends gehe ich auf der Straße und in eher ungewohnter Herzlichkeit stürzt Karl Löbl noch im rüstigen Schritt auf mich zu und umarmt mich herzlich undsoweiter und bedankt sich ganz wahnsinnig darüber. Daraufhin sog ich, wos hot er denn, so toll wor der Brief wieder a net, ehrlich gsogt. Und dann sogt er: "Wissen Sie, wos passiert is? Ich habe 102 Mails bekommen, ich habe 80 SMS bekommen, und einen Brief - und der is von Ihnen". Soviel zum Thema Sprache, Literatur und bemühen wir uns holt, das Schreiben und das Lesen nicht zu verlernen, es könnte uns möglicherweise für die Zukunft helfen. Danke schön."
Ich verzichte auf jedwede Kommentierung (schließlich bin ich auch nicht mehr jung genug, um - wie Lorenz meint - "ins Internet zu kotzen"), möchte aber betonen, dass es sich nicht um Satire handelt, sondern um öffentlich dargebrachte Grußworte des Programmdirektors Fernsehen des ORF, also einer Person mit Führungsfunktion im österreichischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Ebendieser ORF-Programmdirektor kommt heute in einem Interview in der Tageszeitung Kurier zu Wort. Auch dazu könnte man so manches anmerken, wirklich signifikant scheint mir allerdings nur, was Lorenz im Gesetz verankert haben möchte:
"noch besser wäre es, die Politik würde sich endlich damit beschäftigen, was die Werbefenster deutscher Privater anrichten, auch da geht es um 300 Millionen, die einfach abfließen. Aber von Ideen darüber ist das neue Gesetz völlig frei." 
Auch Wolfgang Lorenz sagt nicht, welche konkreten Ideen - Austritt aus der EU? Abschaffung der Dienstleistungsfreiheit in der EU? - das sein sollten (siehe zu ähnlichen Äußerungen Anderer schon hier). Vielleicht ist eben das von Wolfgang Lorenz geforderte Bemühen um die Erhaltung bestehender Fertigkeiten - Schreiben und Lesen - doch nicht immer ausreichend, um die moderne Welt zu verstehen.

16 comments :

Anonymous said...

Lorenz und Treiber die selbsternannten Elitärrudelführer

Anonymous said...

Vielleicht sollte man in der Schule 2 Stunden ORF pro Woche einführen, damit die Jugend dann auch weiß was das ist

schneeengel said...

ich war damals auch dabei, bei seiner berühmten "scheißinternet"-rede... mir hat er damals an den kopf geworfen, es wäre ihm scheiß egal, ob ich den orf schaue oder nicht. ist es ihm jetzt doch nicht mehr? soll ich jetzt doch wieder orf schauen?! ;)

ach ja: danke für den hinweis, aber mir war sofort klar, dass das keine satire ist! ;) und das macht es noch viel schlimmer, er meint es ernst. er meint das, was er sagt, wirklich ernst... und ruft bei mir nur wieder erneutes kopfschütteln hervor!

Schamotnik said...

Da kann man echt nur von einem verwirrten alten Deppen sprechen, der nicht mehr mitkommt und eigentlich gar nix verstanden hat.

max said...

Herr Lorenz sollte endlich zurücktreten und/oder in Pension gehen.

Joachim Losehand said...

Nicht einmal ignorieren.

Alfred Zellinger said...

Die Lorenz Rede liest sich als ob er betrunken gewesen wäre; aber vielleicht hat er sich nur ein Beispiel an einer Bacher-Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele genommen, in dem der auch von einer in "ihre Turnschuhe eingeschweißte Generation" gesprochen hat, die er offenbar nicht mehr recht versteht.

eSeL said...

musste mir das im original anschauen.

die lorenz Rede startet im Videofile ab: 27 min 45 sek.

direktlink:
mms://apasf.apa.at/nocms-worldwide/kaernten_tddl_2010_opening.wmv

Anonymous said...

"Wir können heute bestenfalls von einer Überlebensgesellschaft reden, aber nicht mehr von einer Lebensgemeinschaft". Selten hat jemand den Status Quo der ORF-Mitarbeiter trefflicher beschrieben.

Anonymous said...

Zu H.G. Wells: er meint wohl "The Time Machine" (Eloi vs. Morlocks, in der fernen Zukunft).

hplehofer said...

@Anonymous / Time Machine:
Ja, daran habe ich nicht gedacht, weil Lorenz seinen Hinweis auf Wells im Zusammenhang mit "Second World" gebracht hat. Aber wenn er die Time Machine meint: zählt die Jugend nun zu den Eloi oder zu den Morlocks?
Zitate aus der Wikipedia: "Eloi leben scheinbar sorgenfrei und glücklich, aber völlig unreflektiert und verweichlicht in einer paradiesischen Umgebung", die Morlocks hingegen sind "hässliche, affenartige Wesen, hausen in unterirdischen Höhlen."

Unknown said...

Worte eines trotzigen Überforderten?

Anonymous said...

Hat er recht. Menschen die e-mails schreiben können weder lesen noch schreiben. Ist doch logisch oder nicht?

jonwetzlar said...

Jetzt wundere ich mich nicht mehr, warum die Sendungen des ORF so sind wie sie sind. Fernsehen aus einer längst vergangenen Zeit, mit den immer gleichen Protagonisten, so sie noch leben. Untoten TV. Gibt es in Österreich eigentlich zwangs-Rundfunkgebühren? Wenn ja, arme Menschen, die dafür noch bezahlen müssen.

Anonymous said...

wie wär's wenn im text endlich der peinlich-überhebliche hgwells/huxley-fehler ausgebessert wird? im forum ist dazu eh bereits alles (time machine, eloi, worlocks) abgemerkt worden.
so steht dieses nichtswissen nur als fanal und beweis für die richtigkeit der lorenz-these da, nämlich dass blogger keine bücher gelesen haben.

hplehofer said...

Zum jüngsten "Anonymous": ich habe auf den Kommentar in Sachen Time Machine schon längst durch ein "update" hingewiesen; ich stehe aber dazu, dass ich - wegen des direkten Bezugs zur kurz zuvor erwähnten "Second World" - an "War of the Worlds" gedacht habe, das wohl bekannteste Werk von H.G. Wells - und das passte meines Erachtens nicht zur "Untergesellschaft", anders als vielleicht "Brave New World" (Epsilons!). Es wäre schlechter Stil, würde ich hier mein "Nichtswissen" (ich sehe das eher als ein Missverstehen eines nicht besonders klaren Vergleichs) nachträglich herauslöschen. Dass gerade bei improvisierten Reden manchmal das Publikum nicht alle Assoziationen versteht, soll vorkommen - bei Prof. Lorenz genauso wie bei mir.
Eine These übrigens, wonach "Blogger keine Bücher gelesen haben", hat Prof. Lorenz nicht aufgestellt - wohl aber sagte er etwas über anonyme Beiträge ;-)